Der feine, stille Alte

aus: Für Dich - Reim und Prosa

(hochdeutsch)

 

In seinem kahlen Junggesellenstübchen,

leis kommt die Nacht, zur Ruhe ging der Tag,

sitzt er, der feine, stille, gütige Alte,

vergangener Zeiten er wohl denken mag.

 

In jugendlicher Hast klopft´s an der Türe,

sein Patenkind, ein lieb, hold Mägdelein,

erzählt von tiefer Liebe, stillem Werben,

und ihrer Eltern hartem, kurzem Nein.

 

Hilf du mir, schluchzt sie unter wehen Tränen,

steh du uns bei in unserer Herzensnot,

wir können nimmer voneinander lassen,

und Trennung wäre unser beider Tod.

 

Er küsst sie auf die reine, weiße Stirne,

in seinen Augen strahlt ein mildes Licht,

nimmt ihre schmalen Hände in die seinen,

und spricht: so schnell, lieb Kind, glaub´, stirbt sich´s nicht.

 

Rasch sprudelt´s von den frischen, roten Lippen:

du spottest mein, oh, wie mich das betrübt,

ich hätte mich zu dir nicht flüchten sollen,

du hast in deinem Leben nie geliebt.

 

Ein sonnig und doch wehmutsvolles Leuchten

huscht über das durchfurchte Angesicht:

so, meinst du, tönt es leise durch das Stübchen,

mehr spricht der feine, gütige Alte nicht.

 

Lina Sommer