Ein Wunder

aus: Für Dich! - Reim und Prosa

(hochdeutsch)

 

 

Auf der Straße, in der ich in dem kleinen Städtchen wohnte, spielten täglich eine Masse Kinder, und alle kannten mich, wünschten mir, wenn ich vorüberging, guten Tag und streckten mir mehr oder weniger schmutzigen Händchen entgegen.

 

Eines der kleinen Leutle, das Mariele, war mir ganz besonders an das Herz gewachsen; es hatte so ein treuherziges Gesichtel, schwarzes, krauses Haar, und Augen so blau wie Kornblumen.

 

Sein Vater war gestorben, seine Mutter, eine aufrechte, blanke Frau ging waschen und putzen, um ihre zwei Kinder zu ernähren, eine alte Base mit finsterem, strengem Gesicht hielt, wenn sie nicht in der Kirche saß, das bisschen Haushalt in Ordnung.

 

Wegen einer starken Erkältung konnte ich mal eine Woche nicht ausgehen, und als ich wieder auf die Straße kam, sprang mir Marieles Bruder entgegen und rief: unser Mariele ist so krank, gestern ist es beinahe schiergar gestorben.

 

Ich ging dann gleich in das kleine Häuschen; die Mutter war da und kam mir ganz aufgeregt und mit Tränen in den Augen entgegen. Gott sei Dank, dass Sie kommen, rief sie, eben habe ich die Base fortgejagt. Sie glauben ja gar nicht, wie die das kranke Kind gequält hat. Gelt, Sie gehen zu ihm und reden ihm ein bisschen zu, es steht schlecht mit ihm, der Arzt schüttelt den Kopf.

 

Das Fieber hat zwar nachgelassen, aber die Base hat dem Kind eine solche Angst eingejagt, hat ihm gesagt, es müsse sterben, und es gefragt, ob es nicht noch eine Sünde zu bereuen hätte. Und wie dann das arme, unschuldige Mariele erzählt hat, ja, es hätte im Garten vom Herrn Pfarrer Äpfel mitgenommen, da hat sie ihm mit der Hölle und mit allen möglichen Strafen gedroht.

 

Und jetzt betet es in einem fort, dass unser Herrgott ihm die Sünde vergeben solle, und hat solche Angst vor dem Sterben, und vor der Hölle, und isst nichts und trinkt nichts.

 

Als ich mich zu ihm an das Bettchen setzte, lag das Patientchen so voll Unruhe, die abgezehrten Händchen gefaltet, Gebetchen vor sich hinplappernd, da, und seine erste Frage an mich war: muss ich ins Grabloch, muss ich sterben?

 

Soviel ich ihm auch zuredete, und ihm alles Mögliche erzählte, um es abzulenken, das Kind war nicht davon abzubringen. Ich komme gewiss in die Hölle, ich habe im Garten beim Herrn Pfarrer Äpfel gestohlen, das verzeiht mir der liebe Gott nicht, die Base hat es gesagt, weinte sie.

 

Schließlich, wenn man Kummer und Angst und Sorge den Stachel nehmen will, dann hat es keinen Wert, darüber hinweg zu gehen, dann muss man darauf eingehen.

 

Nein, Mariele, sagte ich, papperlapapp, du kommst nicht in die Hölle, liebes Kind, die Base weiß das halt nicht recht. Ich will dir mal etwas erzählen, gelt, höre schön zu. Sieh, der liebe Gott hat droben im Himmel eine große, große Wandtafel, und das schreibt er auf, wenn ein Kind etwas Böses getan hat.

 

Aber nicht, um das Kind zu strafen, der liebe Gott ist ja so gut, er schreibt es nur auf, damit die Engelchen es lesen, und doppelt auf das Kind Acht geben, dass es keine Sünde mehr begeht. Und wenn dann das Kind von selbst etwas Gutes tut, dann freut sich der liebe Gott, nimmt den Schwamm, und löscht den Namen wieder auf der Tafel aus.

 

Aber meiner steht noch dort, gelt? Nein, Liebes, da brauchst du keine Angst zu haben, der ist schon lang, lang ausgewischt. Ich habe doch nichts Gutes getan?

 

Liebes Mariele, das weiß ich besser. Wer hat denn der alten, müden Frau neulich im Wald geholfen, das dürre Holz aufzulesen, und ihr Säckchen heimzutragen, ungeheißen, das warst doch du, ich habe es ja mit meinen eigenen Augen gesehen, oder nicht?

 

Und wer hat den armen, halb verhungerten, kleinen Hund auf der Landstraße in Schutz genommen, als die bösen Buben ihn so quälten, und wer hat dem Tierchen sein Brot gegeben, das war doch wieder unser Mariele.

 

Sieh, dass du die Äpfel genommen hast, das war ja nicht recht, und du tust es auch nicht mehr, das weiß ich, aber glaube nur, das hast du schon lang, lang wieder gut gemacht, und der liebe Gott hat es dir verziehen. Jetzt komm und trinke das Tässchen Milch, – so, – und nun mache die Augen zu und schlafe ein bisschen, ich sehe es dir an, dass du arg, arg müde bist.

 

Das Kind nickte mir zu, alle Angst war wie weggeweht von dem schmalen Gesichtel, und auf den Zehenspitzen schlich ich mich hinaus.

 

Am anderen Morgen hatte ich wahrhaftig Angst, nach dem Patientchen zu fragen. Als ich Begriff war, nach ihm zu sehen, kam die Mutter, gab mir die Hand und sagte: jetzt denken Sie nur das Glück, mein Mariele ist wie ausgewechselt! Es hat die ganze Nacht geschlafen, hat seinen Kaffee getrunken, eben war der Arzt da, er sagte, es wäre ein Wunder passiert, wir bringen es durch.

 

Wenn die Großen und die Kleinen, die Alten und die Jungen ein bisschen mehr Interesse und Einsicht – und Liebe und Wohlwollen für einander hätten, ich glaube, dann würde noch manches Wunder passieren.

 

Lina Sommer