Achermittwoch

aus: Für Dich! - Reim und Prosa

(hochdeutsch)

 

In einer kleinen Küche, die zugleich als Zimmer diente, saß ein hübsches junges Mädchen an der Nähmaschine und arbeitete eifrig und geschäftig. Ein ganzer Berg von bunten Schürzen lag vor ihr. – „Nun noch diese beiden letzten“, sagte sie, „dann bin ich fertig und kann abliefern, wie will ich froh sein, wenn ich auch mal ein bisschen heraus komme.“

 

„Anna“, rief eine matte, schwache Stimme, und eilig lief das Mädchen nach dem Neben-zimmer, wo eine abgezehrte, blasse Frau mit brennend roten Flecken auf den Wangen in den rotgewürfelten Kissen lag. Ein heftiger Hustenanfall schüttelte ihren kranken Körper, und als sie die dargebotenen Tropfen genommen, fiel sie ermattet und erschöpft in die Kissen zurück.

 

Bis hier herauf in das vierte Stockwerk tönte der Lärm, die Musik und das Gejohle von der Straße, und als Anna wieder an die Nähmaschine ging, öffnete sie das Fenster und bog sich weit, weit hinaus, um auch etwas von der Herrlichkeit da unten zu erspähen – doch es war umsonst; der Ausblick in der engen Straße reichte nicht weiter als auf die nächsten Dächer.

 

Als sie ihre Arbeit wieder aufgenommen hatte, klopfte es an die Tür, und zugleich trat ein junges Mädchen mit übermütigem, kecken Gesichtsausdruck herein, „Anna, Anna, heilige Unschuld, was sehe ich“, rief sie spöttisch – „na, sogar heute am Karnevalsdienstag, sitzest du hinter deiner Nähmaschine – so was lebt doch nicht mehr; geh, lass dich auslachen – so hübsch und frisch wie du bist, und willst mit deinen neunzehn Jahren versauern in lauter Tugend und Ehrbarkeit.

 

Dazu ist es noch Zeit, wenn du mal Großmutter bist. Wirklich, du tust mir leid, Anna, vom ganzen Karneval nichts gehört und nichts gesehen – aber heute ist Schluss, heute musst du mal eine Ausnahme machen, du gehst unbedingt mit uns zum Maskenball.“ „Ich zum Maskenball“, sagte Anna abwehrend, „erstens habe ich keine Maskerade und zweitens erlaubt es die Mutter nicht.“ „Für das erste habe ich schon gesorgt, und das zweite will ich auch fertig bringen.“

 

Damit trat Trude, Anna an der Hand nehmend, in das Zimmer, in dem die Kranke lag. „Guten Tag, Frau Becker“, sagte sie mit ihrer einschmeichelnden Stimme, „Sie sehen aber heute wohl aus, viel besser als neulich. Meine Eltern schicken mich zu Ihnen mit der Bitte, Anna heute Abend mit zum Maskenball gehen zu lassen – nicht wahr – Sie lassen ihr doch das Vergnügen, ich habe schon eine Maskerade von mir für sie zurechtgelegt, wir sind ja in gleicher Größe, also darüber brauchen Sie sich keine Sorge zu machen“.

 

Mit fragendem Blick sah die Mutter ihre Tochter an und sie musste wohl in ihrem Gesicht gelesen haben, wie diese Aussicht sie beglückte, denn sie sagte nicht nein. Sie erkundigte sich nur, ob es auch eine geschlossene Gesellschaft sei, und ob Anna auch beizeiten nach Hause gebracht würde.

 

„Natürlich“, gab Trude halb beleidigt zur Antwort, „was denken Sie, meine Eltern gehen doch auch mit, verlassen Sie sich darauf, Punkt zwölf Uhr liefern wir Ihnen Anna wieder ab; es ist nur, dass sie auch einmal herauskommt, das arme Ding; morgen hat ja die ganze Herrlichkeit sowieso ein Ende. Also, nicht wahr, ich habe Ihr Versprechen, schmeichelte sie weiter, um sechs Uhr darf Anna bei uns sein?“

 

Leise und zögernd gab die Mutter ihre Einwilligung, Anna begleitete die Freundin bis zur Tür, und als sie noch ihre Bedenken äußerte, ob sie die Mutter wohl auch allein lassen könne, flüsterte ihr Trude ins Ohr: „du, dass du mir ja kommst – ich weiß Einen, der auch hinkommt – verstehst mich schon“.

 

Anna errötete bis unter die Haarwurzeln, eifrig beendete sie ihre Arbeit, und auf ihrem hübschen, frischen Gesicht lag es wie lauter Sonnenschein. „Es ist mir doch bang, dich fort zu lassen, Kind“, sagte die Mutter, „wenn Trudes Eltern nicht dabei wären, hätte ich es nie erlaubt“.

 

Anna war in fieberhafter Aufregung und Erwartung; wie lieb war es doch von Trude, sich ihrer anzunehmen, sie lebte ja so zurückgezogen, alle ihre Gedanken hatten sich bisher auf die kranke Mutter, den Haushalt und ihre Arbeit an der Nähmaschine erstreckt – nun sollte sie auch einmal hinaus – frei, aller Pflichten enthoben zum Vergnügen.

 

Eilends kochte sie die Abendsuppe für die Kranke, richtete die beruhigenden, hustenstillenden Tropfen für die Nacht her und sagte flüchtig der Mutter ade. „Wie, du willst schon gehen“, sprach diese wehmütig und streichelte mit den abgezehrten Händen das blühende Gesicht, „nicht wahr, ich kann mich doch verlassen, dass du um zwölf wieder hier bist, es ist mir so eigen zumute“.

 

Bei der Freundin angekommen, hörte Anna zu ihrem größten Erstaunen, dass deren Eltern überhaupt nicht mitkämen. „Schlau muss man es anfangen, wenn man etwas durchsetzen will“, sagte Trude belustigt, „nur unter der Bedingung, dass du mitgehst, kleine Tugendheldin, hat mir die Mutter die Einwilligung zum Ausgehen gegeben.

 

Natürlich ist es auch keine geschlossene Gesellschaft, wir ziehen hier und dort hin, gerade wo wir uns am besten amüsieren. Übrigens, wie reizend dir das Carmen-Kostüm steht“, fuhr sie fort, als sie Annas niedergeschlagene, enttäuschte Miene sah, „ich sage dir, du wirst Aufsehen erregen, schließlich werde ich noch selbst auf dich eifersüchtig“. Damit hängte sie sich in den Arm der Freundin und zog sie mit sich fort, durch das dichteste Leben und Treiben.

 

„Lass mich fort, lass mich heim“, bat Anna; doch als sie den großen, hell erleuchteten Saal betreten hatte, als sie all die fröhlichen Gesichter sah, das lustige, ausgelassene Lachen und die tollen Späße hörte, da riss die allgemeine Lust sie mit sich fort.

 

Der Wein, den man ihr anbot, und die schwüle, dicke Atmosphäre verwirrten ihre Sinne, sie hatte Trude aus den Augen verloren, und als sich ihr nun gar der Eine näherte, dem ihr vertrauensvolles Herz so warm entgegenschlug, da war ihr Versprechen, war die kranke Mutter vergessen – sie lebte nur dem Augenblick – der beglückenden Gegenwart.

 

Geschüttelt von Frostschauern, lag die arme Kranke, sie zählte die Viertelstunden. Da schlug es elf Uhr – gottlob – sie atmete auf, – nur noch eine kleine Weile, dann muss ihre Tochter ja wieder da sein, – wie sie sich nach ihr sehnte. Da erlischt die Nachtlampe; Anna hatte vergessen, sie zu füllen, was ihr nie passiert war. Die zitternden Hände suchten nach den Streichhölzern, – auch diese nicht am gewohnten Platz auf dem Nachttisch.

 

Ein furchtbarer Hustenanfall nimmt ihr alle Kraft und Besinnung; wieder zu sich gekommen, steht sie auf, tastet sich im Zimmer umher, sucht nach den Streichhölzern, – sie muss, sie will wissen, wie spät es ist. Endlich gelingt es ihr, Licht zu machen, gleich ein Uhr, und Anna noch nicht zurück.

 

Mit übermenschlicher Anstrengung schleppt sie sich zu ihrem armen Lager zurück – da fährt unten ein Wagen vor – um des Himmels Willen, wenn ihrem Kind etwas passiert wäre, wenn man die Tochter brächte – verletzt vielleicht. Der kalte Schweiß steht ihr auf der Stirne. Nein, es ist nichts, der Wagen fährt weiter. „Anna, Anna“, kommt es bang und weh über ihre Lippen.

 

Es schlägt zwei Uhr, sie zählt die Minuten, es schlägt halb drei – eine furchtbare Herzensangst überfällt sie – noch immer kommt ihr Kind nicht.

 

Da rasselt unten die Feuerwehr vorbei – oh, wie sie friert – wie die Eiseskälte an ihr heraufkriecht. Sie greift nach dem Glas mit den Tropfen – die armen, müden Hände können es nicht mehr halten – klirrend fällt es zur Erde. Sie ringt verzweifelt nach Luft. „Anna, Anna“, stöhnt sie – und dann wird es still – ganz sonntagsstill in der Stube.

 

Des Morgens gegen sechs Uhr eilt eine bleiche Mädchengestalt scheu an den Häusern entlang – huscht die vier steilen Treppen hinauf und schließt leise, leise dir Türe auf. – Gottlob, die Mutter rührt sich nicht, sie schläft gewiss noch, – kein fragender Blick, kein ungeduldiges Wort wird ihr zuteil; nur rasch zu Bett, sie weiß ja nicht, wie sie der Mutter in die Augen sehen soll.

 

Mit großen, leeren Augen starrt sie zur Decke hinauf, sie bedeckt ihr Gesicht mit den Händen und bricht in unterdrücktes, herzbrechendes Schluchzen aus. Wie gut hat es doch die Mutter, sie schläft so ruhig, so friedlich.

 

Der junge Tag schaut ins Fenster, verstohlen blickt Anna zu der Kranken hinüber, da – – sie kann nicht anders, sie eilt hinzu. „Mutterle, Mutterle“, ruft sie und will ihr die welken Hände streicheln. Mit dem schrecklichen Aufschrei: „tot, tot“, taumelt sie zurück.

 

Die Hausnachbarn eilen herbei, sie finden die Tochter bewusstlos bei der Leiche der Mutter, auf der Erde zerstreut liegt der bunte Tand und Flitter, und draußen läuten die Glocken den Aschermittwoch ein.

 

Lina Sommer