Auf dem Kirschbaum

aus: Ri-ra, rutsche-butsch

(hochdeutsch)

 

Willi war der Sohn eines reichen Gärtners; sein Vater hatte den schönsten Kirschbaum in der Umgebung, den ihr euch nur denken könnt. Er hing auch jetzt wieder voll schöner, saftiger, dunkelroter Früchte. Hei, war das eine Lust und Freude für Willi, wenn er auf den Baum klettern und sich dort nach Herzenslust gütlich tun konnte.

 

Er vergaß darüber sogar die Dampfnudeln, die seine Mutter freitags immer auf den Tisch brachte, und selbst der Rohrstock des Herrn Lehrers, der ihm einmal ganz abscheulich den Hosenboden bearbeitet hatte, weil er vor lauter Kirschenessen eine halbe Stunde zu spät zur Schule gekommen war, machte wenig Eindruck auf ihn. Die Kirschen hatten es ihm angetan.

 

Willi war kein gutes Kind, denn obschon er doch wahrhaftig mehr als genug hatte, fiel es ihm gar nicht ein, dem armen, kleinen Fritz vom Nachbarhäus-chen, der so sehnsüchtig nach dem vollbehangenen Baum blickte, auch nur eine Kirsche über den Zaun hinüber zu werfen. Nicht wahr, das war doch recht garstig und hartherzig!

 

Und eines Tages, als Fritzel bittend seine mageren Händchen ausstreckte und rief: „Du, Willi, wirf mir doch ein paar Kirschen herunter, ich will sie meiner Großmutter bringen, die liegt nämlich krank zu Bett“, da sagte Willi aus dem Kirschbaum herunter: „Ach was, kauf‘ dir halt welche, auf dem Markt gibt’s genug, du alter Bettelfritz, du!“

 

So gab es nur harte Worte für den armen Kleinen, und mit Tränen in den Augen und tief beschämt und gekränkt lief er davon. Er hatte ja kein Geld, etwas zu kaufen, und hatte auch nicht betteln, nur bitten wollen.

 

Der waghalsige, nimmersatte Willi hatte sich indessen auf einen morschen Ast gesetzt, der brach mitten entzwei, und Willi purzelte herunter. Geschieht ihm schon recht, werdet ihr vielleicht denken. Doch nein, schadenfroh soll man nicht sein. Willi fiel nämlich nicht auf den Rasen, sondern er schlug seinen Kopf gehörig am Wegrand an, und tat sich sehr weh am Knie.

 

Natürlich schrie er Zeter-Mordio, wie wenn er am Spieß steckte, seine Eltern kamen gelaufen, der Vater trug ihn ins Haus, brachte ihn zu Bett, und es wurde gleich nach dem Arzt geschickt. Dieser verordnete nun, dass der Nimmersatt wenigstens vier Wochen zu Bett liegen müsse, damit das verletzte Knie wieder heile.

 

Obgleich seine Eltern sehr lieb und gut zu ihm waren und die gute Tante jeden Tag kam und ihm aus Grimms Märchen und anderen schönen Büchern vorlas, langweilte Willi sich doch gründlich, denn seine Hauptfreude war es immer gewesen, mit seinen Kameraden und Altersgenossen zu spielen. Weil er aber nicht sehr beliebt war bei ihnen, ließen sie ihn nun im Stich, und waren sogar froh, den Spielverderber und Störenfried für einige Wochen los zu sein.

 

„Mutter“, sagte er eines Tages, „o geh doch mal zu Nachbars Fritz und frage ihn, ob er mir nicht Gesellschaft leisten will, ich würde mich so darüber freuen! Bring‘ ihm auch ein Körbchen Kirschen mit, gelt, Mutter, – seine Großmutter isst sie nämlich so gern.

 

Als die Mutter hinüber kam, sagte Fritzel traurig: „Ach, hätt‘ ich doch die Kirschen früher gehabt, meine Großmutter ist heute Nacht gestorben! Aber ich will gern mit Ihnen kommen und Willi die Zeit vertreiben helfen, bis er wieder gesund ist.“

 

Er ging nun gleich mit der Mutter hinüber, und als Willi ihn so betrübt eintreten sah, rief er vom Bett aus: „Du, Fritz, bist mir doch hoffentlich nicht mehr böse, dass ich neulich ‚Bettelfritz‘ zu dir gesagt habe, sieh, es war ja nur Spaß, und war nicht schlimm gemeint.

 

„Bös bin ich dir nicht“, sagte Fritzel“, „aber arg weh hat mir’s getan, und denke nur, meine Großmutter ist nun tot, und ich habe ihr keine Kirschen kaufen können.“ Das tat dem Willi nun so leid, und er bereute es sehr, so geizig gewesen zu sein.

 

Unter Fritzels Einfluss ist er nun ein besserer kleiner Mann geworden, und ich bin fest überzeugt, nächstes Jahr zur Kirschenzeit, da sitzen die beiden einträchtig beisammen auf dem Baum, lassen sich die Kirschen gut schmecken, und einer gönnt dem andern das Beste, wie es überhaupt in der Welt sein sollte.

 

Lina Sommer