Der Vater kommt

aus: Lust und Freud für kleine Leut (1916)

(hochdeutsch)

 

Gar hart und frühzeitig, viel eher als sonst, hatte diesmal der Winter im Gebirge eingesetzt, umso schlimmer für die Bewohner des entlegenen Dörfchens, als die Gras- und Kartoffelernte sehr spärlich ausgefallen war. Obgleich die meisten Familien ihr Schweinchen geschlachtet, ihre Ziege im Stall und Mehl und Hülsenfrüchte im Hause hatten, sah doch mancher Hausvater dem langen Winter mit Sorge entgegen; denn Verdienst oder Arbeit gab es nicht in dieser Jahreszeit.

 

So erging es auch dem Vorarbeiter Karl Fink. In der Sägmühle, in der er sonst arbeitete, war der Betrieb bereits eingestellt und mit sorgenvoller Miene stand er am Fenster seines windschiefen Häuschens und sah dem Schneetreiben draußen zu.

 

„Mutter,“ sagte er zu seiner Frau, „es wird am besten sein, wenn ich mir auswärts Arbeit suche, ehe Weg und Steg verschneit sind. Bei unseren knappen Vorräten wird es schwer halten, die vier Kinder satt zu bekommen. Was soll ich nun auch noch zu Hause sitzen? Bei dem Strohmattenflechten wird so herzlich wenig verdient.“

 

Die Frau seufzte tief. Noch nie war ihr Mann den Winter über fortgegangen, aber auch noch nie hatte er seine Arbeit in der Sägmühle so früh niederlegen müssen. Sie sah ein, es war recht und gut, was er vorhatte, und doch konnte sie nicht gleich ihre Zustimmung geben.

 

„Es ist ja nur für diesen Winter, Mutter, im Frühjahr bin ich wieder da,“ redete ihr der Vater zu, als sie sich mit dem Zipfel ihrer blauen Schürze die Tränen aus den Augen wischte.

 

„Und wenn dir draußen in der Fremde etwas passiert,“ schluchzte sie.

 

„So darf man nicht denken, Mutter; wir stehen überall in Gottes Hand! Es ist am besten, wenn ich heute noch mein Bündel schnüre, wir machen uns das Herz sonst nur noch schwerer.“

 

Am Abend erzählte der Vater den Kindern von seinem Vorhaben. Da gab es nun ein großes Lamento, ein allgemeines Bitten und Betteln, er möchte doch da bleiben, denn sie fürchteten sich so allein.

 

„Habt ihr denn nicht die Mutter?“ tröstete der Vater. „Ja, es ist aber doch traurig, wenn wir ohne dich schlafen gehen müssen,“ sagte Fritz, der Älteste, und die Geschwister stimmten ihm bei.

„Es geht nicht anders,“ sagte der Vater. „Seid nur recht brav und folgt recht schön, dann sollt ihr sehen, was ich euch im Frühjahr alles mitbringe.“

 

Diese Aussicht schlug alle Bedenken aus dem Felde, und nachdem der Vater von den Kindern Abschied genommen und jedes ans Herz gedrückt hatte, gingen sie getrost schlafen.

 

Am nächsten Tage, sobald der Morgen graute, war der Vater auf, packte seine Siebensachen zusammen, riegelte leise die Tür auf und eilte ins Freie. Als er sich an der Stelle, wo der Weg abzweigt, noch einmal umdrehte und mit warmem Blick sein Häuschen umfing, winkte ihm die Mutter mit ihrem großen roten Tuche nach.

 

Wie lange dünkten den Zurückgebliebenen jetzt die Tage, wie vermissten sie alle den treubesorgten Vater! Sie sehnten ihn so herbei, wenn die Schneestürme um die Hütte heulten und tobten, und sie nicht hinaus konnten ins Freie.

 

„Am ersten März kann er wiederkommen, das dauert bloß noch siebzig Tage,“ erklärte Fritz seinen Geschwistern.

 

Die Mutter strickte fleißig an einer warmen wollenen Jacke. „Für wen strickst du die?“ fragte Elise. „Sie ist das Weihnachtsgeschenk für den Vater,“ erklärte die Mutter; „wenn er auch zum Christfeste nicht bei uns sein kann, so bescheren wir ihm nachträglich, wenn er wiederkommt.“

 

Voll Eifer schnitzte Fritz einen Bilderrahmen, Mariechen strickte ein Paar Pulswärmer, Hansel klebte ein Buchzeichen aus buntem Papier, und der kleine Karl sah mit seinen großen blauen Augen andächtig zu bei der Herstellung all dieser Herrlichkeiten.

 

So verging die Zeit. Dass der Vater außer einer Karte, worin er schrieb, dass es ihm gut gehe und dass er lohnenden Verdienst gefunden habe, keine Nachricht gab, beunruhigte die Seinen nicht, denn viel Schreiben war so wenig seine Sache als viel Reden. Der Weihnachtstag kam heran; der Förster hatte ein Auge zugedrückt, als ihn Fritz um Überlassung einer Tanne gebeten hatte und freudestrahlend brachte er den Baum in seinem Schlitten nach Hause. „Da sieh nur, Mutter, solche Prachttanne haben wir noch nie gehabt, wenn die der Vater sehen könnte!“ rief er fröhlich.

 

Gar langsam ging den Kindern die Zeit herum. Sie saßen alle vier am Fenster, schauten hinüber nach dem Walde, der ein weißes Feiertagskleid angelegt hatte, sahen den Raben zu, die in dichten Scharen vorüberflogen und freuten sich an dem schönen Abendbrot.

 

Endlich, endlich klingelte die Mutter. Wie hell leuchtete der mit Äpfeln und vergoldeten Nüssen geschmückte Tannenbaum! Auf dem Tische standen sechs irdene Teller mit je zwei Lebkuchen-Herzen und unter dem Weihnachtsbaume fand jedes der Kinder ein warmes Kleidungsstück und ein kleines Spielzeug.

 

Neugierig lüftete Elise das Tuch, das über dem sechsten Teller lag: „Aha, für den Vater, wenn er wiederkommt!“ sagte sie altklug, als sie die Pulswärmer obenauf liegen sah.

 

Da wird auf einmal tüchtig an die Türe gepocht, immer lauter, immer unheimlicher. Die Kinder verkriechen sich hinter den großen Ofen. „O Mutter, mach‘ doch nicht auf!“ schreien sie durcheinander.

 

„In der Christnacht darf man keinen von der Türe weisen; es ist vielleicht ein verirrter, halberfrorener Mensch,“ meint die Mutter, geht hinaus, und als sie den Riegel aufschiebt, taumelt sie ein paar Schritte zurück, denn vor ihr steht – wer meint ihr? – der Vater! Und so gesund und froh sieht er aus, man merkt ihm an, dass ihm alles nach Wunsch gegangen ist.

 

„Mutter!“ ruft er, den großen Sack, den er auf dem Rücken hatte, vorsichtig an die Türe lehnend, aber weiter kommt er nicht, denn wie die wilde Jagd stürzte es hinter dem Ofen hervor: „Der Vater ist da, juchhe, der Vater ist da!“

 

Ehe er sich’s recht versieht, sitzt Fritz auf seinem Rücken, Mariechen hängt an seinem Halse, Hansel klammert sich an seinem Rockzipfel, und das kleine Karlchen benutzt die günstige Gelegenheit, steigt mit seinen kleinen Strampelbeinchen auf den Stuhl und bearbeitet den Sack aus Leibeskräften, bis schließlich das urfidele Gesicht eines Hampelmanns herauslacht.

 

„Nun aber alle hinaus, auch du, Mutter!“ ruft der Vater, packt den Sack aus, und als nun Mutter und Kinder wieder hereinkamen, war des Jubels kein Ende. „Wie schön, wie schön, Vater, dass du nun wieder mit uns schlafen gehst,“ sagte Fritz, „ich habe mir Weihnachten ohne dich gar nicht vorstellen können!“

 

Dann stimmte der Vater mit seiner tiefen Stimme das Lied an: “Stille Nacht, heil’ge Nacht“. Und es war so feierlich und friedlich in dem kleinen armen Häuschen, gerade als wenn der liebe Gott selber zugegen wäre.

 

Lina Sommer