Die Geige

aus: Für Dich! - Reim und Prosa

(hochdeutsch)

 

Als ich neulich wieder mal in das Krankenhaus ging, um großen und kleinen, bekannten und unbekannten Patienten „Guten Tag“ zu sagen, kamen den Gang entlang – begleitet von einer barmherzigen Schwester – ein älterer Mann und ein älteres Fraule, denen das Herzeleid nur so auf den Gesichtern geschrieben stand.

 

Sie hatten sich bei den Händen gefasst, wie Kinder es tun. Die Frau mit dem gebeugten Rücken trug ein kleines, schäbiges, armseliges Kofferchen, der Mann hatte einen Geigenkasten – einen alten, abgenützten, zerbrochenen Geigenkasten, der mit einer Schnur zusammengebunden war, unterm Arm, oder vielmehr im Arm.

 

Bis ins innerste Herz ergriffen, blieb ich stehen und verneigte mich still vor den beiden Leutchen in ihrem heiligen Schmerz, denn wer ein Herz im Leib hat und „Augen, zu sehen“, der musste doch fühlen, dass es Eltern waren, die die letzten Habseligkeiten von ihrem Sohn – vielleicht von ihrem Einzigen – heimholten.

 

Auf mein Befragen wurde mir meine Annahme bestätigt, und ich erfuhr, dass der Sohn der beiden Alten am Tag vorher beerdigt worden war, dass die Eltern mit seiner Geige und seinem bisschen Siebensachen jetzt wieder heim in ihr Dorf fuhren. Der junge Mann war schwer krank eingeliefert worden, Ärzte und Schwestern wussten von vornherein, dass er nicht mehr aufkommen würde, und weil er so ein armer, geduldiger, freundlicher Patient war, hatten ihn alle ganz besonders ins Herz geschlossen.

 

Oft und oft hatte er um seine Geige gebeten, und da er seines schrecklichen Hustens wegen ja doch ein Zimmerchen allein hatte, wurde ihm sein Wunsch erfüllt, der Vater durfte ihm die Geige mitbringen. Noten hatte er keine; er spielte meist so wehe, schwermütige Weisen, dass den Schwestern oft die Tränen in die Augen kamen. Nur einmal, ein einziges Mal, da sang und klang seine Geige in hellem Jubel, es war an dem Tag, als seine Mutter ihn mit einem lieben, hübschen, sonnigen Mädel aus der Heimat besuchte; da war des Frohlockens schier kein Ende.

 

In seiner letzten Zeit, als er so heiser war, dass er kein lautes Wörtchen mehr reden konnte, musste man dem Patienten seine Geige auf das Deckbett legen, und wenn er zu schwach war, den Bogen zu halten, strich er mit der abgezehrten Hand zärtlich über die Saiten. Was mag er ihnen alles anvertraut haben, ehe er die große Reise antrat, von der niemand von uns zurückkehrt!

 

Ich wünsche nur, dass die Geige in gute treue Hände kommt, dass sie nicht im Wirtshaus oder zur Tanzmusik aufspielen muss, ich glaube, das täte ihr weh.

 

Lina Sommer