Die Mandelkrupperin

aus: Hausapothek (1933)

in Mundart zu lesen - Originalschreibweise siehe unten

 

Unter allen diesen lieben Menschen, die wo uns – das heißt, meine Geschwister und mich – in der Jugendzeit gehegt und gepflegt haben, und die jetzt schon lange schlafen gegangen sind, steht unser gutes Großmutterchen oben an. Sie hat nicht weit von unserem Elternhaus gewohnt und jeden Tag hat eines von uns Kindern abwechslungsweise bei ihr zu Mittag essen dürfen. Natürlich hat sie jedes Mal, und zwar „ganz zufällig“, jedem seine Leibspeise gekocht.

 

An einem schönen Tag, kurz vor Weihnachten, war jetzt das Lenchen an der Reihe, bei der Großmutter zu essen, und wir sind alle ganz erschrocken, wie es – wir waren gerade bei der Suppe gesessen – ganz scheu und betucht hereinschlüpft in die Stube. Wie der Papa frägt: „Lenchen, du wirst doch nichts angestellt haben“, gibt das Lenchen ihm zur Antwort: „Awa, bei der Großmutter gibt es heute nichts Gescheites, und weil ich gewusst habe, dass die Mama Kartoffelbrei mit Rotkraut und Bratwürstchen kocht, bin ich heimgegangen.“

 

Das Lenchen war kaum an seinem Plätzlein gesessen, da wird die Tür aufgerissen, und hereingestürzt, – so aufgeregt, wie ich sie in meinem Leben noch nie gesehen habe, – unsere gute Großmutter. Der Atem ist ihr beinahe ausgegangen, und ganz gebrochen und schachmatt ist sie auf den ersten, besten Stuhl gefallen. „Wo ist sie, wo ist sie, die wüste Schnäkerin“, fängt sie an zu weinen und zu lamentieren.

 

Der Papa und die Mama machen sich um die arme, alte Frau zu schaffen, das Lenchen erwischt die Gelegenheit und salviert sich aus der Stube.

 

Nach langem Zureden und einem tüchtigen Löffel voll Baldriantropfen hat sich unser Großmutterchen wieder beruhigt und ein bisschen erholt, und fängt dann stoßweise an zu erzählen. „Jakob, du weißt, wir haben bald Weihnachten, und du weißt auch, was ich von jeher für ein Renommee habe im Gutselbacken. Schon, wie du noch ein kleiner Bube warst, Jakob, hast du immer gesagt: „Ätsch, meiner Mutter ihr Gutsel, und meiner Mutter ihre Lebkuchen sind die besten und schönsten weit und breit.“

 

„Freilich, liebes Mutterchen, und das behaupte ich heute noch; es wird doch niemandem einfallen, das Gegenteil zu sagen, – diesem täte ich den Standpunkt klar machen.“

 

„Nein, Jakob, aber gucke, die ganze Weihnachts-Pläsier ist mir verdorben durch die Krott, – das Lenchen. Die letzte Woche bin ich in alle Bäckerläden von ganz Speyer gelaufen, und in jedem Laden habe ich die Lebkuchen betrachtet und versucht, und habe mir dann zwanzig Pfund, gerade die allerschönsten, herausgesucht. Sie haben wahrhaftig mit dem ganzen Gesicht gelacht, und die Mandeln waren so groß und so weiß, ich sage dir, Jakob, es war der helle Staat. Der Bäckerbube hat sie mir in das Haus getragen, ich habe ihm extra noch etwas spendiert, dass er mir ja gut darauf Acht gibt, und dann habe ich sie in das Fremdenzimmer auf den Tisch gelegt, und mit einer weißen Decke zugedeckt. Erst heute Morgen habe ich sie noch gelupft, und habe meine helle Pläsier daran gehabt.

 

Gleich darauf ist das Lenchen gekommen, es geht auch hinein in das Fremdenzimmer, – ich denke mir nichts Böses dabei, – und wie ich es vorhin zum Essen rufen will, da hätte mich fast der Schlag gerührt; das Lenchen war fort, die weiße gehäkelte Decke ist auf dem Boden gelegen, und – (jetzt sind der Großmutter die hellen Tränen aus den Augen gelaufen) – von den großen Halb-Pfünder-Lebkuchen, wo ich den meisten Staat mit habe machen wollen, sind alle Mandeln herunter- und herausgekruppt. Jetzt kannst du dir ungefähr einen Begriff machen, Jakob, wie meine Lebkuchen aussehen, – gerade, wie ein Mund ohne Zähne, oder wie eine Stube ohne Vorhänge.“

 

„Mutter, muss es denn gerade das Lenchen getan haben, kann es nicht auch vielleicht die Katze gewesen sein“, frägt die Mama; aber die betuchte alte Frau schüttelt den Kopf und sagt: „du brauchst dieser Krott nicht die Stange zu halten, natürlich war sie es, für was wäre sie denn sonst durchgebrannt?“

 

Der Papa geht also hinaus, fängt und langt sich mit vieler Mühe das Lenchen, führt es am Ohrläppchen herein und sagt: „So, jetzt erzähle, – was hast du mit der Großmutter ihren Lebkuchen angestellt?“

 

„Es ist nicht weit her, ich habe nur ein paar Mandeln herausgekruppt und habe sie gegessen, deswegen braucht man sich nicht so aufzuregen“, meint das Lenchen, – „ein anderes Mal tue ich es nicht mehr.“

 

„So, du bist ja kurz angebunden, – da gucke her, wie deine Bosheiten der Großmutter so nahe gehen, – gleich bittest du sie um Verzeihung.“ „Großmutter“, grammelt das Lenchen, „gehe, ärgere dich doch nicht so; kaufst halt ein viertel Pfund neue Mandeln und steckst sie in die alten Löcher, – da sieht es kein Mensch; ich kann es ja auch selbst besorgen.“

 

„Das täte mir gerade noch fehlen, du bist so gut und lässt deine Dotschen davon; und dein Gutsel und die Lebkuchen hast du gesehen für dieses Jahr, – das Christkindlein bringt dir nichts von mir.“

 

Jetzt war es die allerhöchste Zeit für in die Schule zu gehen; das Lenchen ist vorausgelaufen, wir anderen sind hinten nach getrosst und haben den ganzen Weg gespottet:

„Mandelkrupperin,

Mandelkrupperin,

ätsch, ätsch, Mandelkrupperin.“

Das Lenchen hat sich herumgedreht, eine lange Nase gemacht, eine Fratze geschnitten, mit dem Fuß aufgestampft und gerufen: „jetzt gerade, – jetzt gerade.“

 

Lina Sommer

 

Originalschreibweise:

 

folgt