Grundsätze

aus: Für Dich! - Reim und Prosa

(hochdeutsch)

 

Sie waren ihrer vier Geschwister und hingen mit großer Liebe aneinander: früh verwaist wurden sie bei Onkel und Tante erzogen. Bruder Fritz, der Assessor, war der Älteste und spielte eine Art Vorsehung und Vaterrolle über die Schwestern. Er bekannte sich als geschworenen Feind des Ehestandes und dachte immer, seine Schwestern sollten so ruhig und friedlich beisammen bleiben bis an ihr Lebensende, dann blieben sie vor Enttäuschungen und Sorgen bewahrt.

 

So oft er zu Besuch kam, legte er den Mädchen stets ans Herz „nur nicht heiraten“, und wenn er wieder abfuhr, hielt er noch zum Kupee heraus eine Moralpredigt mit dem Refrain: „nur nicht heiraten“. Und er war sonst kein übler Mensch, der Bruder Fritz, im Gegenteil, er hatte einen ernsten, lauteren Charakter, doch er ließ sich nicht davon abbringen: „Ehestand, Wehestand“.

 

Eines Tages meldete sich ein Freier für Schwester Liesel, ein junger Reallehrer. Da die Familien auch persönlich verkehrten, und sonst alles stimmte, war der Onkel nicht abgeneigt, seinen Segen zu geben. „Aber was wird Fritz dazu sagen?“ kicherten die Mädchen, „der wird der guten Liesel das Herz noch schwer machen“. „Kinder, das gibt einen Hauptspaß, das nehme ich auf mich“, sagte belustigt der Onkel, „wir überraschen ihn einfach“.

 

So wurde Bruder Fritz kurz eingeladen, am Sonntag zur offiziellen Verlobung seiner Schwester Liesel zu kommen. Sprachlos betrachtete Fritz den Brief von allen Seiten, aber er erholte sich einigermaßen vom lähmenden Schreck und fand sogar einen gelinden Trost, einen gewissen Ausweg in dem kleinen Wörtchen: offiziell. Spornstreichs rannte er zur Bahn und fuhr zum Onkel, „um das Unglück womöglich noch zu verhüten“.

 

Dort fiel er gleich mit der Tür ins Haus: „Liesel, Liesel, wo steckst du? Du willst doch heiraten, du willst dich unglücklich machen, besinne dich, besinne dich. Noch ist die Sache ja nicht offiziell, hoffentlich komme ich noch zur rechten Zeit, um dir diese Gedanken aus dem Kopfe zu treiben“. „Spar dir alle Mühe, Brüderlein“, versicherte Liesel, „ich weiß ja, wie gut du es meinst, aber ich lasse nicht von meinem Hans, und sieh, da kommt er auch schon“.

 

Zum größten Entsetzen ihres vor Schreck fast erstarrenden Bruders flog Liesel ihrem Bräutigam entgegen, und als sie nun Hand in Hand vor ihm standen, maß der Assessor seinen Schwager mit solch durchdringendem Blick, wie wenn er die geheimsten Tiefen seines Herzens erforschen wollte; dieser aber ließ sich durch die Menschenfresser-Miene Fritzens nicht irre machen und sagte lustig: „So habe ich Sie mir ungefähr vorgestellt, ich hoffe, dass wir bald nicht nur gute Verwandte, sondern auch die besten Freunde werden.

 

Das ehrliche Gesicht und die freundlichen, ungezwungenen Worte gefielen Fritz. Als Freund hätte er den jungen Mann gleich akzeptiert, aber als Schwager, als Liesels Mann, nein, das konnte er noch nicht fassen. Als er sah, dass Liesel partout keine Vernunft annehmen wollte, reiste er ab und entschuldigte sich mit den Worten: „eine Verlobung geht mir gegen das Prinzip. Noch am Bahnhof ermahnte er die beiden jüngeren Schwestern: „Aber auf euch kann ich mich doch verlassen, nicht wahr, nur nicht heiraten“.

 

Liesel war natürlich gekränkt, dass Fritz nicht gleich Feuer und Flamme für ihren „einzigen“ Hans war. Das sollst du mir büßen, Fritze, gelobte sie sich im Stillen und beschloss, nichts mehr und nichts weniger, als den Grundsatz ihres Bruders ins Wanken zu bringen und ihn selbst zu verheiraten. Schnell fertig war der Plan: sie hatte eine Pensionsfreundin, ein liebes, hübsches, stilles Mädchen, Tochter eines Oberförsters, die mit ihrem Vater in einem nahe gelegenen Forsthause wohnte.

 

Diese wurde also zunächst eingeladen, um zu sondieren, ob ihr Herz noch frei sei. Und als das junge Mädchen dann zu Besuch kam, war es allen, als ob sie ein Stückchen Waldpoesie und Waldfrieden mit ins Haus brächte. Jeder war von ihrem holden Wesen entzückt. „So, das gibt eine Frau für Fritz“, dachte Lieschen, „wenn er da seinem Prinzip nicht untreu wird, so ist ihm in dieser Beziehung überhaupt nicht mehr zu helfen“.

 

Die Vorbereitungen zur Hochzeit wurden getroffen. Fritz bat sich gleich von vornherein aus, dass sie ihn nicht womöglich zum Heiratskandidaten stempeln und ihm keine jugendliche Tischdame geben sollten, denn das würde ihn höchlich verstimmen, „wie alle Absichten in dieser Beziehung“.

 

„Sei nur nicht bange, alter Junge“, neckte Liesel, „solch einen Frosch, wie du bist, gebe ich überhaupt keiner meiner Brautjungfern zum Führer, wir haben nur noch eine Dame zu vergeben, Verwandte von Hans, so ungefähr im Schwabenalter, mit der kannst du dann über dein beliebtes Thema „nur nicht heiraten“, diskutieren, die gibt dir gewiss recht“.

 

Also kam der Herr Assessor getrosten Mutes zur Hochzeit. „Wie schade“, sagte der Onkel zu ihm, „einer der Brautführer hat absagen lassen, nun musst du doch seine Dame führen, wir können uns doch nicht blamieren. Die Cousine im Schwabenalter nehme ich so lange auf mich, es handelt sich ja auch nur um die Feier in der Kirche, nachher bin ich gerne erbötig, dir die bewusste Cousine wieder abzutreten. Doch jetzt ist es höchste Zeit, dass du hinausfährst ins Forsthaus und dich dort der jungen Dame vorstellst, und morgen Vormittag punkt zehn Uhr holst du sie ab. – Und Fritz fuhr hinaus in den Wald.

 

Die Schwestern standen zu Hause auf der Lauer und wollten sehen, wie er zurückkäme, daraus gedachten sie ihre Schlüsse zu ziehen. Und als der Wagen hielt, sprang der Ehestandsverächter wie ein Achtzehnjähriger, immer drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf und war den ganzen Abend nicht mehr zu sprechen. „So ist es recht“, schmunzelte der Onkel, sich vergnügt die Hände reibend.

 

Am nächsten Morgen um neun Uhr stand der Herr Assessor in größter Gala und mit einem undefinierbaren Lächeln auf dem Gesicht unter der Türe und sah nach seinem Kutscher aus. Und als er dann um elf Uhr mit seiner Dame ankam, ruhten aller Augen bewundernd auf dem jungen Paar; wie eine Maiblume sah das liebliche Geschöpfchen in seinem schlichten weißen Kleide aus.

 

Als der Onkel nachher an den Tisch kam, um den Platz neben Liesels Freundin einzunehmen und Fritz der alten Cousine zu überweisen, bat dieser mit dem treuherzigsten Blick: „alles, was du willst, lieber Onkel, nur das nicht“. Er war überhaupt so ausgelassen und lustig, hielt sogar eine Rede über „das Glück“ und „die Liebe“, so dass die Schwestern sich zuflüsterten: “Sein Prinzip scheint ins Wanken zu kommen“.

 

Drei Tage später, als das junge Paar auf der Hochzeitsreise in Wien war, kam ein Telegramm: „als Verlobte empfehlen sich Hilde und Fritz“, worauf prompt die Antwort einlief: „es gratulieren zur endlichen Bekehrung Hans und Liesel“.

 

Über ein Jahr war vergangen, und Fritz wurde als Pate gebeten zu Liesels erstem Buben. Natürlich gehört zu einer Patenschaft auch eine gewisse Würde; diese dokumentiert man am besten durch Grundsätze, und so erklärte er denn: „nur den Buben nicht verwöhnen, das taugt nichts, – sollten wir mal ein Bübchen haben, mit spartanischer Strenge und Einfachheit würde ich es erziehen, – also merkt es euch, nur nicht verwöhnen“.

 

„Du wirst auch mit diesem Grundsatz wenig Glück haben, du wirst auch damit Schiffbruch leiden“, entgegnete Liesel. Und die Probe ließ nicht mehr lange auf sich warten. Fritz wurde bald Vater eines allerliebsten Töchterchens. Aus jedem Briefe leuchtete förmlich sein Stolz und sein Glück, und am Schlusse hieß es stets: „unser Kind wird nicht verwöhnt, macht es auch so“.

 

Die ganze Verwandtschaft und Bekanntschaft war schon dort gewesen, die kleine Prinzessin zu begrüßen, nur Liesel hatte sich noch nicht blicken lassen, so dass Bruder Fritz sie mit Bitten bestürmte, sie solle doch nur einmal einen einzigen Tag kommen, etwas Lieberes und Hübscheres als sein Töchterchen gäbe es überhaupt nicht. Also meldete sich die neugebackene Tante „zur Bewunderungs- und Anbetungsvisite“, wie sie es nannte, an.

 

Am Bahnhof wurde sie von Fritz empfangen. „Hilde lässt einstweilen herzlich grüßen, sie konnte nicht mit, weil Trudchen noch nicht gebadet hat; wir wollten damit warten, bis du da bist, – es ist zu hübsch anzusehen, wie wohl sich das kleine Ding im Wasser fühlt; und ich sage dir, das Kind ist so lieb, wird nicht verwöhnt, – nicht im geringsten wird es verwöhnt“. Frau Liesel lächelte über diesen Feuereifer.

 

Als sie ankam, stand die Schwägerin mit der Kleinen am Fenster, in der Tat, ein allerliebstes Bildchen. Nun aber rasch ins Bad, kommandiert Vater Fritz, steht mit der Uhr in der Hand daneben, und als die obligaten fünf Minuten verstrichen sind, ruft er mit martialischer Stimme: „r – r – r – raus“, und wirft dann selbst das Badetuch über.

 

Doch Fräulein Trudchen schien dies Befehlen ohne ihre gütige Ansicht nicht zu gefallen, sie zappelte, strampelte und schrie aus Leibeskräften; „da seht nur hin, welche Energie schon in der Krabbe steckt“, sagt Papa Fritz voll Stolz, „was meinst du, Hilde, ich denke, wir stecken sie noch ein paar Minuten ins Wasser, schaden kann es ihr ja nicht, – im Gegenteil“.

 

Und richtig, Fräulein Trude bekam ihren Willen, sie durfte nochmals ins Bad, und als sie dann herauskam und ihr Köpfchen durchgesetzt hatte, war sie die Liebenswürdigkeit selber. Frau Liesel aber dachte, indem sie mit knurrendem Magen dabei stand: aha, unser Kind wird nicht verwöhnt.

 

„Nun geht es in den Wagen, Mäuschen, nun zeige mal der neuen Tante, wie lieb und still du einschläfst“, sagte Mama Hilde. Und richtig, so lange die Flasche noch gefüllt war, hörte man nichts. Dann aber fing es an, in allen möglichen und unmöglichen Tonarten zu piepsen, quietschen und zu schreien, von Piano bis Furioso.

 

„Ach, sie wird doch nicht etwa Zahnweh haben, das arme Ding“, meinte der Vater besorgt. „Wart, Herzchen, ich fahr dich ein bisschen“. Damit schob er den Wagen auf und ab und sang dazu mit seiner tiefen Bassstimme: „schlaf, Herzenskindchen“, bis die Kleine glücklich eingeschlummert war. „Oh, heiliger Bimbam, drei Monate alt und Zahnweh“, kicherte Frau Liesel – „ja, unser Kind wird nicht verwöhnt“.

 

Am Nachmittag machten alle einen Spaziergang, das Dienstmädchen fuhr mit dem Wagen voraus. „Therese, nicht so rasch“, rief der Papa, „wir können das Kind ja gar nicht sehen“. Und als Klein-Trudel nun die Mama erblickte, da war kein Auskommen mehr, es gab einen Lärm, dass einem Sehen und Hören verging. „Fahr du sie doch lieber, Hilde, dann gibt sie sich zufrieden“, erklärte der Papa und im Stillen triumphierte er: „ist das doch ein kluges Geschöpfchen, dass es den Unterschied so merkt“. Frau Liesel aber lächelte verschmitzt . . .

 

Nun ging es auf den Abend, Trudel wurde zu Bett gebracht. „Sollst mal sehen, wie rasch sie einschläft, nicht wahr, Hilde, Licht bekommt sie fast nie, ganz im Dunkeln. Aber kaum war die Lobrede verklungen, da fing es drinnen auch schon zu spektakeln und zu rumoren an: „wä – wä – wä – wä“, klang es in einem fort, so dass Tante Liesel unwillkürlich dachte, das klingt ja gerade wie „Licht her – Licht her“.

 

Papa und Mama eilten beide ins Schlafzimmer. „Armes Mäuschen, was ist dir nur, hast du dich gestoßen? – hast du Zahnweh? – gelt, du hast heute einen schlechten Tag, – wart, wir lassen die Türe ein bisschen auf, dann wird es hell“. Und als nun diese väterliche Fürsorge noch nichts half, wurde die Nachtlampe angesteckt, – und das gnädige Fräulein schlief jetzt sofort beruhigt ein.

 

Als Frau Hilde das Abendessen besorgte, setzte sich Fritz zu seiner Schwester aufs Sofa und fragte etwas kleinlaut: „nun, Tante Liesel, wie gefällt dir dein Nichtchen?“ – „Euer Töchterlein gefällt mir ausgezeichnet, und ich freue mich so herzlich über euer Glück“, sagte die Schwester, ihre Hand in die des Bruders legend, „nur die vielgepriesene spartanische Strenge und Einfachheit konnte ich nicht entdecken“.

 

„Aber ich bitte dich, in dem zarten Alter“, rief Fritz vorwurfsvoll, „das wäre doch rein unmenschlich. Du kannst bei alledem doch nicht behaupten, dass unser Kind verwöhnt wird. Warte nur, bis sie erst mal größer ist, dann ziehe ich andere Saiten auf“.

 

„Nein, darauf will ich lieber nicht warten“, meinte Liesel schelmisch, „du hast zum Glück mit deinem ersten Grundsatz Schiffbruch erlitten, du bist auch mit deinem zweiten Prinzip in Konflikt geraten, – jetzt stelle nur um des Himmels willen kein drittes mehr auf. Wie sagt dein Namensvetter Fritz Reuter: „nimm dir nichts vor, dann geht dir nichts fehl“. Und sie lachte ihn tüchtig aus.

 

Erst war er baff, aber das Lachen steckt eben an, auch war seine Situation kritisch, und so machte er das Schlaueste, was er tun konnte, – er lachte herzlich mit. Von weiteren Grundsätzen Fritzens hat aber die Welt bis dato nichts mehr vernommen.

 

Lina Sommer