Ich will zu meinem Vater

aus: Das Lewe is kä Kinnerschbiel

in Mundart zu lesen - Originalschreibweise siehe unten


(Dieser Text ist in pfälzer Mundart zu lesen, wenn er hochdeutsch gelesen

wird, ergibt sich an vielen Stellen ein schlechtes oder sogar falsches Deutsch)

 

 

An einem kalten Februartag, wie ich in Weinheim auf den Wochenmarkt gegangen bin, kommt ein Gendarm die Gasse herunter, ein kleines Bübel-chen neben sich, das wo geweint hat zum Erbarmen. Ich steuere darauf zu für zu fragen, was mit dem Bübelchen los wäre, da höre ich, wie das arme Kerlchen schluchzt: ich, ich will zu meinem Vater, zu meinem Vater will ich.

 

Für es ein bisschen zu beruhigen, habe ich meinen Arm um es gelegt, habe ihm mein Sacktüchlein gegeben, dass es sich die Nase putzen und die Tränen trocknen kann, und der Gendarm hat mir erzählt, das wäre ein rechter Ausreißer, er wäre in Mannheim bei seiner Pflegemutter schon öfter durchgebrannt, und wollte absolut nach Frankfurt zu seinem Vater.

 

Unterwegs auf der Landstraße hätte er es aufgegabelt, und wollte jetzt mit ihm auf die Eisenbahn, für es nach Mannheim zurück zu bringen. Nein, nein, ich will nicht auf Mannheim, ich will zu meinem Vater, hat das Kind wieder lamentiert und hat am ganzen armen Körperchen gezittert und gebibbert; es ist mir durch und durch gegangen.

 

Ich bin ein Stückelchen Weg mitgelaufen, habe das Kerlchen gefragt, wie es heißt – Fritz war sein Name – acht Jahre alt – habe ihn gefragt, wo sein Vater ist. Da hat er mir die ganze Adresse angegeben, Frankfurt-Sachsenhausen, die Straße, die Hausnummer, die Leute, bei denen wo sein Vater wohnt und auch noch die Fabrik, in der wo er Monteur wäre.

 

Ich habe mir meinen Bleistift genommen, der Gendarm hat mir aus seinem Notizbuch ein Stückelchen Papier gegeben, habe mir alles aufgeschrieben, habe dem armen Teufelchen versprochen, ich täte an seinen Vater schreiben, und bin dann wieder retour gegangen. Wie ich mich noch einmal herum-

drehe, guckt das Bübelchen sich wahrhaftig auch um, mit Augen, wie ein geprügelter Hund.

 

Einen Mantel hat es angehabt bis an die Knöchel, die Ärmel waren herum-geschlagen, die zwei erfrorenen Händchen haben herausgeguckt, in der einen hat er einen langen, dicken Ast gehabt als Stock, ein alter verschim-melter Filzhut ist ihm in das Gesichtlein gerutscht bis an die Augen, die Schuhe waren zerrissen und ein bloßer Zeh ohne Strumpf hat herausgeguckt.

 

Wenn das Häufchen Elend nicht gar so groß gewesen wäre, hätte man sagen können, ein Räuberhauptmann en miniature.

 

Wie ich vom Markt heimgekommen bin, habe ich gleich an den Vater geschrieben, und vier Tage darauf habe ich einen großen Brief von ihm gekriegt, worin er mir erzählt hat, er hätte sich von seiner Frau scheiden lassen, weil sie mit Anderen angebändelt hätte, hätte dann durch einen Kollegen eine Stelle in Frankfurt gekriegt, weil ihm Mannheim verleidet gewesen wäre,

 

hätte seine zwei größere Kinder mitgenommen, hätte probiert, die zwei kleineren – den Fritzel und die Binchen – in das Waisenhaus zu bringen, es wäre aber nicht geglückt, so hätte er sie halt in Kost geben müssen, täte aber alles aufbieten, dass er bald soweit wäre, seine „vier Kinderchen“ wieder alle bei sich zu haben.

 

Der Brief hat mir gefallen; ich also ein Paketlein von abgelegten Kleidern und Spielzeug von meinen Buben, und die haben so viel aus ihren Sparbüchsen geholt, dass es gereicht hat für ein Paar neue Schuhe für den Fritzel.

Der Mann hat sich von Herzen bedankt und dabei geschrieben, dass er an Ostern nach Mannheim ginge und mich bei dieser Gelegenheit besuchen täte.

 

Ich habe ihn wissen lasse, er sollte sein Geld sparen, ich wäre über die Feiertage auch verreist, habe einer guten Bekannten in Mannheim den Fritzel an das Herz gelegt, und wie sie mich hat wissen lassen, das Kind wäre jetzt bei anderen guten Leuten untergebracht und ganz vergnügt, und sie täte als einmal nach ihm gucken, war ich beruhigt.

 

Im Herbst 1914 kriege ich auf einmal einen Feldpost-Brief vom Fritzel seinem Vater aus Kowno; er war dort beim Telegraph und hat mir seine Adresse angegeben. Von da an haben wir ihm an jedem Samstag ein Paketlein geschickt, er hat sich auch immer schön bedankt auf Karten mit der Anrede: „Geehrte Frau Sommer!“ Einmal, wie ich keine Zeit gehabt hat, macht mein Mädchen die Paketchen und erzählt mir, sie hätte meine Visitenkarte hineingelegt.

 

Es währt nur eine Woche, da bringt mir die Post zur Abwechslung einen Brief vom Fritzel seinem Vater. „Geliebte Frau Sommer: mit großer Freude habe ich aus Ihrem allerwertesten Kärtchen gelesen, dass Sie eine Witfrau sind. Geliebte Frau Sommer, ich habe das bis jetzt noch nicht gewusst: haben Sie noch nicht daran gedacht, sich wieder zu verehelichen, es ist doch so nett und lieblich.

 

Geliebte Frau Sommer, ich lege Ihnen mein neues Konterfei bei, was mein Kamerad gemacht hat. Sie müssen aber nicht denken, dass ich so ein Lümmel bin, und keinen Anstand nicht habe, weil ich die Zigarre im Mund habe, es ist eine von den Ihrigen. Geliebte Frau Sommer, wenn es Gottes Wille ist, dass ich aus dem Krieg hervorgehe, dann will ich eine Mutter suchen für meine vier Kinderchen, ich habe so oft Heimweh nach ihnen. Einer werten Antwort erwartend, geliebte Frau Sommer, Ihr …“

 

Wie ich jetzt den Brief gelesen und das Bild von dem kleinen Knorzen mit dem köstlichen Gesichtsausdruck gesehen habe, habe ich nicht gewusst, soll ich lachen oder weinen, und was ich mit dem armen Familienvater anfangen soll, der wo drüben in Kowno sitzt, sich womöglich die Nase und die Dotschen (Finger) erfriert und Heimweh hat nach seinen vier Kinderchen.

 

Ich habe ihm also ein extra gutes Paketchen gemacht und habe ihm geschrieben: geehrter Herr, nein, ich habe noch nie daran gedacht und denke auch nicht daran, mich wieder zu verheiraten. Ich wünsche Ihnen, dass Sie gesund aus dem Krieg heimkehren und dann bald eine brave Frau und gute Mutter für Ihre Kinder finden.

 

Er hat mich verstanden, jetzt war die Anrede wieder: geehrte Frau Sommer, und an einem schönen Tag hat er mir mitgeteilt, ich sollte ihm nichts mehr auf Kowno schicken, er käme heim, seine Firma hätte ihn reklamiert. Ein viertel Jahr später schreibt er mir dann aus Frankfurt, er hätte sich verheiratet mit einer vermöglichen, tüchtigen Köchin, und hätte seine vier Kinderchen wieder bei sich.

 

Mit der schönsten Karte, die wo ich habe erwischen können habe ich ihm und seiner vermöglichen, tüchtigen Frau gratuliert, und weil der Fritzel jetzt wieder bei seinem Vater war, hat der Einblick in das Stückchen Menschenleben aufgehört.

 

Lina Sommer

 

Originalschreibweise:

folgt