Mein ideales Verhältnis

aus: Dess un Sell, Das Lewe is kä Kinnerschbiel

(in Mundart zu lesen - Originalschreibweise siehe unten)

 

(Dieser Text ist in pfälzer Mundart zu lesen, wenn er hochdeutsch gelesen

wird, ergibt sich an vielen Stellen ein schlechtes oder sogar falsches Deutsch)

 

 

Es hat allerhand Verhältnisse im menschlichen Leben, ideale und gewöhnliche, gute und schlechte, Liebes-, Kredit-, Schuld-, Miet-, Nacht- und der Teufel weiß, was noch für Verhältnisse, am meisten wird man die schlechten, und am wenigsten die idealen Verhältnisse antreffen, aber heute will ich erzählen, ihr lieben Leute, wie man auch ohne ideale Verhältnisse zu einem idealen Verhältnis kommen kann.

 

Es war dieses Frühjahr im April, es hat schon so schöne warme Tage gehabt, da bin ich an einem Sonntag-Morgen auf den Kirchhof gegangen; auf dem Heimweg war ich so müde und so kaputt, und weil ich gedacht habe, meine Suppe und meine Makkaroni und die Bratwürstlein hätten noch Zeit, habe ich mich auf eine Bank gesetzt, für ein bisschen zu verschnaufen. Es war so ein Kinderspielplätzlein – ich setze mich sonst nicht gerne dahin, denn erstens muss man sich zu viel über die Kindermädchen ärgern – , zweitens gabelt man sich da meistens einen Floh auf, und drittens bin ich am liebsten allein für mich.

 

Aber an dem Morgen war es so still und properchen, und so habe ich mich ganz vorne auf das Schnepperlein von der Bank gehockt , denn am Ende, da war so ein altes Männlein gesessen und das hat mir nicht so recht gepasst. Zwei Mäd(el)chen haben Fangerle’s gespielt; das eine davon fällt gerade vor dem alten Männlein auf die Nase, bleibt gestreckterlängs liegen, und weiß nicht recht, soll es lachen oder weinen.

 

Der alte Mann lacht zu dem Kind hin, stützt sich ein bisschen fester auf seinen dicken Stock, streckt ihm die Hand hin, und wie er es dann peu a peu in der Höhe gehabt hat, da langt er in sein Westentäschlein und legt ihm ein Stück(el)chen Zucker mitten auf die Nase. Das Mäd(el)chen fängt an zu lachen und springt lustig fort.

 

Jetzt hat mich der alte Mann interessiert. Ich bin ein bisschen näher gerückt und habe ihn gefragt, ob es ihm gut ginge und ob er auch ordentlich versorgt wäre. Da fängt er an zu erzählen, dass er siebzig Jahre alt wäre, dass er weder Kind noch Kegel hätte, dass er nie verheiratet gewesen wäre, und das wäre ihm ein so schöner Gedanke, allein sterben zu können, und zu wissen, dass niemand da wäre, dem sein Tod nahe ginge und der um ihn weinen täte.

 

Ganz betroffen habe ich das alte Männlein angeguckt, und da habe ich mich geschämt vor mir selbst, dass ich ihn erst für einen Bettelmann taxiert habe, denn so sieht ein Bettelmann von Profession nicht aus.

 

Jetzt wollt ihr auch wissen, wie er ausgesehen hat, am Ende lacht ihr mich noch aus, wenn ich euch sage, er hat trotz seiner armseligen, abgenützten Kleider, seiner zerrissenen Stiefel und seinem schäbigen Schabbesdeckel, so etwas Feines, Abgeklärtes und Vornehmes in seinem Gesicht gehabt, dass ich mir gedacht habe: du armer Tropf, du hast dir es vielleicht auch nicht träumen lassen, dass du auf deine alten Tage trockenes Brot knabbern musst.

 

Seine Augen waren die reinsten Kinder-Augen, so klar und so blau, wie man sie nur bei Kindern sieht, oder bei Leuten, die mit dem Leben abgeschlossen haben und sich auf den Himmel freuen.

 

Ich hätte jetzt gar zu gerne gehört, dass es dem alten Männlein wenigstens passabel gehen täte, und habe ihn also gefragt, ob er in einem Spital wäre. Er hat mir aber gesagt, dass er vorzeitig keine Heimat hätte und dass er in der Herberge auf der Durchreise logieren täte.

 

Bitter leid hat mir das Alterchen getan, man hat ihm die ärgste Armut angesehen und doch habe ich mich geniert, ihm ein Almosen anzubieten. So habe ich mich dann erkundigt, ob er noch öfter an das Plätzlein da, und auf diese Bank käme, und war froh, zu erfahren, dass er, so lange er hier wäre, alle Morgen ein Stündchen da ausruhen täte.

 

Daheim habe ich mir dann den Kopf zerbrochen, wie ich dem alten Wanderer helfen könnte und was ich ihm auf seinen voraussichtlich nur noch kurzen Lebensweg zuliebe tun könnte.

 

Ich habe dann meinen Buben von ihm erzählt, aber die haben mich ausgelacht, haben mich geuzt, es wäre gewiss ein rechter Phrasenmacher, der nur ein Attackchen auf meinen schwindsüchtigen Geldbeutel vor hätte, und das Ergatterte dann in Alkohol anlegen täte, und mein kleinster Bube, der fängt an zu juchzen: ätsch, unser Mutterchen hat auf ihre alten Tage noch ein ideales Verhältnis.

 

Ich habe mich aber nicht irre machen lassen, und am nächsten Morgen stiefele ich in die Herberge.

 

Auch ohne dass ich mich lange expliziert habe, hat der Herbergsvater aus meinen Fragen doch gleich gewusst, wen ich meine, und hat mir erzählt, dass der alte Mann der anständigste Mensch wäre, der ihm bis jetzt unter die Augen gekommen wäre. Er wäre so höflich, hätte so viel Lebensart, und täte sich auch nie mit den Anderen einlassen, nur, wenn es als einmal Streit geben wollte, da täte er den Friedensstifter spielen, und sie hätten alle Respekt vor ihm.

 

Von was lebt er denn? frage ich.

 

Ja, haben tut er nichts, sein Schlafgeld bezahlt er immer in Pfennigen, zum Essen kommt er als her. Hat er Geld, dann geht er in den Saal, hat er keines, dann geht er hinauf in die Stube, und da gebe ich ihm halt als, was übrig bleibt. Schnaps trinkt er nicht, manchmal ein Schöppchen Bier, ich habe auch schon gesehen, wie er einem armen Kerl, der einen wehen Fuß gehabt hat, ein paar Pfennige zugesteckt hat; wahrscheinlich bettelt er sich Geld zusammen.

 

Jetzt habe ich genug gewusst, um, auch ohne mich vor mir selbst verdefendieren zu müssen, am nächsten Morgen wieder zu dem Spielplätzlein zu stiefeln. Ich gehe auf meine „Bekanntschaft“ zu, gebe ihm die Hand, fasse mir ein Herz und sage, ich wäre gekommen, um ihn zu fragen, ob ich ihm nicht irgend etwas zuliebe tun, oder eine kleine Erleichterung schaffen könnte.

 

Da sind ihm doch die hellen Tränen über die Backen gelaufen, und er hat mich angeguckt, ich sage euch, ich bin in meinen eigenen Augen an Wert gestiegen. So habe ich dann aus ihm herausgebracht, dass er zu Fuß von Augsburg käme, wo er sich den Winter über aufgehalten hätte, und dass er jetzt zu Fuß unterwegs wäre nach Hamburg.

 

Ich gucke mir die arme, alte, gebrechliche Gestalt an und sage, das wäre ja nicht möglich, dass er den Marsch machen täte. Er bleibt aber dabei, behauptet, mit gutem Willen ginge alles, und er hätte sich es jetzt vorgenommen, weil Hamburg seine Heimat wäre. Gott sei Dank, sage ich, da sind Sie ja dort heimatberechtigt, und haben doch auf den Winter ein warmes Plätzlein.

 

Um ein Unterkommen auf den Winter ist mir es nicht bang, meint er, und guckt mich so eigen an, bis dorthin bin ich versorgt: ich habe meinen Herrgott noch nicht um viel gebittet, nur den einen Wunsch habe ich, dass er mich bald einschlafen lässt und dass ich niemandem zur Last fallen muss. Wenn Sie mir wirklich etwas zuliebe tun wollen, so verhelfen Sie mir doch zu einem abgelegten, sauberen Rock, mit meinem ist nichts mehr zu wollen.

 

Dann ist er aufgestanden, gerade, als wenn er schon zu viel gesagt hätte, hat mir die Hand gegeben, und hat sich mühselig weitergeschleppt.

 

Jetzt sind zur Abwechslung mir die Tränen aus den Augen gelaufen. Ich bin heim, habe meine zwei Kleiderschränke visitiert, ein Paketchen gemacht und in die Herberge geschickt, und dem Herbergsvater sagen lassen, dass er den alten Mann auf unsere Kosten – meine Buben waren auf einmal Feuer und Flamme – verköstigen sollte, so lange als er noch hier wäre.

 

Am nächsten Morgen schellt es an meiner Tür; wie ich aufmache, wer steht draußen, meine Bekanntschaft in ihrer „neuen, sauberen Montur“. Hundert Mal hat er sich bedankt für alles, der arme Kerl, und hat mir ade gesagt, weil er in den nächsten Tagen sich auf die Reise machen wollte.

 

Ein paar Wochen später habe ich im Tageblatt gelesen, dass ein alter Mann, abseits von der Landstraße, in einem Gebüsch ganz schachmatt und hilflos aufgefunden worden wäre, und dass er, trotzdem ein Doktor sich alle Mühe mit ihm gegeben hätte, noch am selben Abend gestorben wäre.

 

Es hat mir keine Ruhe gelassen, ich habe an den Bürgermeister von dem Städtchen geschrieben, und habe dann auch richtig erfahren, dass es mein armer, alter Bekannter war, der wo da still, und „ohne jemandem zur Last zu fallen“, seine Heimat gefunden hat.

 

Jetzt sagt einmal, war das nicht ein „ideales Verhältnis“?

 

Lina Sommer

 

Originalschreibweise:

folgt