Mein Papa
aus: Das Kleine Lina-Sommer-Buch (1962)
in Mundart zu lesen - Originalschreibweise siehe unten
(Dieser Text ist in pfälzer Mundart zu lesen, wenn er hochdeutsch gelesen wird,
ergibt sich an vielen Stellen ein schlechtes oder sogar falsches Deutsch)
Alle Jahre, wenn die großen Ferien angefangen haben, habe ich, als die Älteste, immer zu meinen guten Großeltern nach Edenkoben gedurft, und der Papa oder die Mama haben mich hinbegleitet und hingebracht.
So hat sich es auch wieder einmal darum gehandelt, nach Edenkoben zu fahren, und weil der Papa krank war, die Mama auch nicht disponibel, hat er sich mit blutendem Herzen entschlossen, mich alleine fahren zu lassen. Ich war selbigen Mals schon neun Jahre alt, und es lächert mich heute noch (reizt mich heute noch zum Lachen), wenn ich an die Präliminarien (Vorverhandlungen) denke, die dieser großen Reise vorangegangen sind.
Am Abend vorher hat mich der Papa an sein Bett kommen lassen, da war der Fahrplan gelegen und die Eisenbahnkarte und zum Überfluss noch die Landkarte dazu, und ein Stück Papier und ein Bleistift. Zuerst habe ich auf der Eisenbahnkarte, dann auf der Landkarte mit dem Finger weisen müssen, wie ich fahren wollte, und weil ich die Richtung glatt gefunden habe, sind jetzt die Instruktionen an die Reihe gekommen. Drei Mal hat mir es der Papa vorgesagt und sechsmal habe ich es nachsagen müssen, schön im Takt:
„Speyer einsteigen,
Schifferstadt sitzen bleiben,
Neustadt umsteigen,
Edenkoben aussteigen“
und schließlich habe ich es noch auf ein Zettelchen schreiben müssen. „Du brauchst auch noch zu lachen“, hat der Papa gezankt, „wenn dein Vater daliegt mit geschwollenen Mandeln und kann nicht mitfahren.“ Darum habe ich noch eine Postkarte nach Diktat schreiben müssen: „Geliebte Eltern, ich bin soeben wohlbehalten in Edenkoben angekommen. Es grüßt euch eure gehorsame Tochter Lina“, und bin instruiert worden, die Karte gleich in Edenkoben, ehe ich zum Bahnhof herausgehe, in das Postkästlein zu stecken. Wie ich am anderen Morgen zum Papa komme für ‚ade‘ zu sagen, da hat er mir noch einen Zettel in die Hand gegeben, den habe ich ihm laut vorlesen müssen:
1. Frauencoupé fahren
2. Das Billet nicht verlieren – Schusselbock!
3. Mit niemand Kommers anfangen.
4. Das Coupé-Fenster zu lassen.
5. Nicht an die Tür lehnen.
6. Überhaupt aufpassen.
Dann hat mich die Babette an die Bahn gebracht, für dass ich nicht vergesse, in Speyer einzusteigen, hat mich ins Frauencoupé zweiter Klasse gesetzt, mein Züglein ist abgedampft und die Babette wieder heimgetrosst. Ich war ganz alleine im Coupé, darum habe ich auch gleich das Fenster aufgemacht, weil mir es zu langweilig war, und wie der Schaffner ruft ‚Schifferstadt‘, da suche ich und suche ich nach meinem Zettel und kann und kann ihn nicht finden. Es ist mir alles im Kopf herumgegangen, ach Gott, Schifferstadt, soll ich einsteigen, soll ich aussteigen, oder sitzen bleiben, ach lieber Gott, hilf mir doch, und in meiner Alteration nehme ich mein Kofferchen und nichts wie hinaus.
Draußen habe ich dann meinen Ausweis gefunden, und fange an zu weinen und klage dem Schaffner meine Not. Der Unmensch hat sich halb kaputt lachen wollen und hat mich ernsthaft gefragt, ob sie mich nicht auf Speyer retour fahren sollten. Ich habe mich natürlich gewehrt, bin in den Wartesaal, habe meine zwei Schinkenbrötchen gegessen und bin mit dem nächsten Zug weitergefahren. In Neustadt bin ich umgestiegen, habe weiß Gott den rechten Zug erwischt und wie er das erste Mal anhalten tut, springe ich heraus, stecke meine Karte ins Kästlein, und auf einmal sehe ich, dass ich noch gar nicht in Edenkoben, dass ich erst in Maikammer bin. Was will ich machen, ich muss halt wieder warten, und bis ich schließlich in Edenkoben war, war es vier Stunden später als ich hätte ankommen sollen.
Der Großpapa ist am Bahnhof gestanden und hat ausgesehen so weiß wie Käse. „Linchen, Linchen“, sagt er, „was hast du für Sachen gemacht, wo bist du herumkutschiert, drei Mal hat dein Vater schon telegrafiert, ob du angekommen bist; der ist in heller Verzweiflung. Ich will ihm nur gleich depeschieren, dass du jetzt da bist, sonst kommt er am Ende selbst noch.“ Ich habe nachher alles erzählen müssen, habe meine zwei Zettelchen hergezeigt, und da fängt der Großpapa an zu lachen, und da hat er sich verschluckt und hat so husten und alsfort husten müssen, dass er ganz blau im Gesicht geworden ist und vielleicht bei lebendigem Leib erstickt wäre, wenn ihm die Großmutter nicht fest auf den Buckel geklopft hätte.
Um neun, wie wir gerade ins Bett gehen wollten, hält der Omnibus vor dem Haus und die Großmutter sagt: „wahrhaftig, da kommt der Jakob,“ (so hat nämlich mein Vater geheißen). Ich gehe ihm ganz betucht (niedergeschlagen) entgegen und grammle (brumme): „Papa, Papa, sei nicht böse, ich kann ja nichts dafür, ich will es nicht mehr tun“, und wie er mich gesehen hat, da ist er angegangen wie ein Lichtlein. Wie leid mir jetzt meine Schusslerei getan hat, kann ich euch gar nicht sagen, denn der Papa war eingewickelt um den Hals herum wie ein Eskimo, und die Ohren waren so voll Watte gestopft, dass sie vorne herausgeguckt hat.
Wie wir dann drinnen sitzen in der Stube, da sagt mein Großpapa: „Jakob, ich kann es dem Kind weiß Gott nicht verdenken, dass es so einen Schlamassel gehabt hat, wie kannst du aber auch so etwas machen:
Speyer einsteigen,
Schifferstadt sitzen bleiben,
Neustadt umsteigen,
Edenkoben aussteigen,
so etwas bringst nur du fertig.“
„So“, krächzt der Papa mit Ach und Krach hinter seinen geschwollenen Mandeln heraus, „du brauchst dieser Krott auch noch die Sta – Sta – Stange zu halten. Wenn sie schon mitdem Z – Ze – Zettel so Possen macht, da wäre sie vie – lleicht o – o – ohne Ze – Ze – Zettelbis auf Kon – Konstan – tino – no – no – nopel gefahren.“
Wie das Konstantinopel glücklich herausgegackst war, ist die Großmama gekommen mit einem Tässchen Lindenblütentee, und von dem Tee und von diesen Ängsten, die wo er um mich ausgestanden hat, ist dann mein Papa so schön ins Schwitzen gekommen, dass die geschwollenen Mandeln über Nacht abgeschwollen sind, und er hat getrost heimfahren können. Also ist meine Schusslerei doch für etwas gut gewesen, wer weiß, wie lange er sonst noch im Bett gelegen wäre!
Lina Sommer