Mutters letzte Reise

aus: Für Dich! - Reim und Prosa

(hochdeutsch)

 

Mutterle, ein gebücktes, kleines, altes, freundliches Fraule war wieder mal zu ihrem verheirateten Sohn zu Besuch gekommen, und als sie am Abend mit ihm und seiner Familie gemütlich an dem runden Tisch beisammen saß, streichelte der stattliche junge Mann dem Altchen die Hände und sagte: Potztausend, Mutter, was mir da eben einfällt, du hast ja nächsten Monat deinen siebzigsten Geburtstag! Wahrhaftig, das hätte ich ja beinahe vergessen, hättest mich schon lange daran erinnern sollen.

 

Aber warte nur, das soll einmal ein Fest geben! Natürlich musst du den Tag bei uns verbringen, und die ganze Verwandtschaft wird eingeladen, das lasse ich mir nicht nehmen. Da sollst du etwas erleben, Mutterle, ich freue mich heute schon darauf! Aber, sage mal, hast du nicht so ganz heimlich und verschwiegen einen Extra-Geburtstagswunsch? Gelt, ich habe es erraten – nun aber mal losgelegt, und heraus mit der Sprache.

 

Die alte Frau bekam ordentlich einen roten Kopf, als sie sagte: ja, Fritz, ich hätte schon noch einen kleinen Wunsch, sieh‘, ich möchte so gerne nochmal in meine Heimat, in das liebe, alte, verschlafene Städtchen, aus dem mich dein Vater als Braut geholt hat. Wie oft war ich früher mit dir und deinen beiden Schwestern dort bei den Großeltern, denkt es dir nicht mehr?

 

Gewiss, gewiss, Mutter, das werde ich nie vergessen, und wenn ich hundert Jahre werden sollte. Wie freuten wir uns immer auf die Ferienzeit dort. Also da möchtest du nochmal hin? Schau, schau! Hast du aber auch die weite Reise bedacht, und die teure Fahrt? Es wird ein schönes Stück Geld kosten, denn allein können wir dich nicht fahren lassen, dazu bist du zu alt. Es müsste also schon jemand von uns mit dir reisen, und das verteuert die Sache ganz bedeutend.

 

Nein, allein könnte ich nicht fahren, da hast du recht, das sehe ich selbst ein! Früher, als ihr noch Kinder wart, habt ihr euch an mich geklammert, und nun ich alt und unsicher bin, muss ich mich an euch klammern. Und sieh‘, ich hätte ja auch keine Silbe von dem stillen Wunsch gesagt, wenn du mich nicht ausdrücklich danach gefragt hättest. Schon gut, schon gut, Mutterle. Du brauchst dich doch wahrhaftig nicht zu entschuldigen.

 

Im selben Augenblick flog ein Engelchen durch das Zimmer, und weil diese Boten Gottes tiefer blicken können als die Menschen, bemerkte es den wehen Ausdruck im Gesichtel der alten Frau. Schnell breitete es seine Flügel aus, und flog hinauf in den Himmel, direkt zu Gottvater.

 

Oh, lieber Herr, sagte es, das alte Fraule, das du mir so ans Herz gelegt hast, das möchte zu seinem siebzigsten Geburtstag so gern eine Reise in seine Heimat machen und seine Angehörigen sind nicht damit einverstanden; was tun wir da? Gottvater legte seine milde, gütige Hand dem Engelchen auf den Kopf, sah ihm in die leuchtenden Augen und sprach: aber das ist doch so einfach! An dem Tag fliegst du herunter und holst das alte Fraule zu uns herauf, vergiss mir es nicht, hörst du?

 

Nein, der Engel vergaß es nicht; am siebzigsten Geburtstag klopfte er bei dem alten Mütterchen an und holte es sachte-sacht zu seiner letzten Reise hinauf in die Heimat.

 

Lina Sommer