Vergesslichkeit

aus: Hausapothek

in Mundart zu lesen, Originalschreibweise siehe unten


 

(Dieser Text ist in pfälzer Mundart zu lesen, wenn er hochdeutsch gelesen

wird, ergibt sich an vielen Stellen ein schlechtes oder sogar falsches Deutsch)

 

 

Meine Tante Gustel ist ein liebes, harmloses und gutherziges altes Jüngferchen, aus lauter Rücksichten zusammengesetzt, und kennt in ihrer Herzenseinfalt keine größere Pläsier, als anderen Leuten Freude zu machen. So ist sie auch immer heiter und zufrieden mit Gott, mit der Welt und mit sich selbst, nur klagt sie als öfter über ihre große Vergesslichkeit.


„Du machst dir gar keinen Begriff, was das für eine Last ist, wenn man so vergesslich wird wie ich“, lamentiert sie als. Neulich hat sie sich einmal entschlossen, ihren alten Kram so ein bisschen modernisieren und auffrischen zu lassen, und hat sich zu diesem Zweck, für drei Tage nacheinander, eine Nähmamsell bestellt.

 

Es ist auch alles ganz zur gegenseitigen Zufriedenheit verlaufen; die Tante Gustel hat ihrerseits nicht viele Ansprüche gestellt, das Fräulein Amanda hat sich es wohl sein lassen, und hat alle Liebenswürdigkeiten und Aufmerksamkeiten, auch alle die guten Bissen, die ihr die Tante Gustel angeboten hat, huldvoll und gnädig angenommen.

 

Zwischendurch hat sie dann als, trotz ihrer nichtsnutzigen Augen, so recht tief geseufzt, den Kopf in die Hand gestützt und so tiefsinnig vor sich hingeguckt, dass es der guten Tante Gustel ganz leid getan hat. „Fräulein Amanda“, sagt sie, „Sie haben gewiss, trotz Ihrer Jugend, einen großen Kummer, wollen Sie mir denn nicht Ihr Herzchen ausschütten, vielleicht wird es ein bisschen leichter.“

 

Das Fräulein Amanda hat sich aber auf das Geheimnisvolle verlegt, hat sich als Opferlamm aufgespielt und hat gesagt, was unser Herrgott einem auferlegt, das müsste man auch alleine tragen, so dass die Tante Gustel ganz gerührt war, und sich noch abends, unter ihrem geblüm(el)ten Betthimmel den Kopf zerbrochen hat, wie sie denn auf eine recht zarte, taktvolle Art dem braven, tüchtigen Mädchen ein bisschen helfen könnte.

 

Am zweiten Tag ist das Fräulein Amanda schon ein bisschen mehr aufgetaut, hat als so ein paar Andeutungen gemacht von unglücklicher Liebe, und wie sie abends fortgeht, frägt sie die Tante Gustel, ob sie sich nicht für den anderen Tag jemanden mitbringen dürfte zum Helfen.

 

Die Tante Gustel hat natürlich gleich zugestimmt, und war ordentlich froh, dem Fräulein einen Gefallen erweisen zu dürfen.


Am Samstag morgen, so um neun Uhr herum, schellt es draußen, die Tante Gustel macht die Tür auf, die Amanda schwebt herein, streckt ihr gleich die zwei Hände entgegen, hintennach kommt ein patenter junger Mann, gibt der Tante Gustel auch die Hand, lacht so unschuldig und so treuherzig über das ganze Gesicht, und „Fräulein Frommholz, mein Bräutigam, Herr Kandidat Schlicht“, stellt die Amanda vor.

 

Der Tante Gustel ist es zuerst ein bisschen überzwerch zu Mut geworden, aber wie die zwei jungen Leutchen da so ungeniert ablegen, und die Amanda den jungen Mann mit den Worten: „komm, lieber Schatz“, ins Wohnzimmer hereinbugsiert, da hat ihr gutes Herzlein wieder die Oberhand gewonnen; sie springt in ihren Filzpantöffelchen in die Küche, stellt frisches Kaffeewasser auf, nimmt ganz heimlich und verstohlen die glatte, weiße Tasse vom Tisch, stellt zwei verzierte Tassen mit Goldrand hin, und hat dann ein Mordspläsier, wie höflich und nett sich der junge Mann „für die freundliche Aufnahme“ bedankt.

 

Die Fräulein Amanda hat dann der Tante Gustel erklärt, das wäre sozusagen ihr Seelenbräutigam, ein Kandidat der Theologie. Er hätte eine Stelle als Hauslehrer angenommen, und wie er dem Baron Vorhaltungen gemacht hätte über die freien Ansichten, in denen er seine Kinder erziehen täte, da wäre er zum Dank für seine Aufrichtigkeit Knall auf Fall entlassen worden. Jetzt hätte er gerade keine Stelle und da hätte sie ihn halt heute mitgebracht, dass er sich vielleicht ein bisschen nützlich machen könnte.

 

Der Tante Gustel sind die hellen Tränen über ihre roten Bäckchen auf die gefalteten Hände herunter getröpfelt. Der Herr Kandidat hat sich an die Maschine gesetzt, hat angefangen zu spulen und zu schmieren, gerade wie einer vom Fach, die Amanda hat ihm dann ein Blüschen und ein Morgenröckchen gegeben, für die Heftfäden herauszuziehen; das war der Tante Gustel ein bisschen arg schinant, sie nimmt ihm ganz verschämt die Sachen aus der Hand und frägt, ob sie ihm nicht ein Buch zum Lesen bringen dürfte.

 

Er verlangt dann: Lavater „Worte des Herzens“, und Spitta „Psalter und Harfe“ und hat sich ganz hinein vertieft. Nach einer Weile konstatiert die Fräulein Braut, „jetzt müsste die Fräulein Frommholz ihr mäuschengraues Seidenblüschen mit den schwarzen Tupfen anprobieren, und da müsste ihr lieber Heinrich halt so lange in die gute Stube gehen.“ Wie er drinnen ist, zieht sie den Schlüssel ab, legt ihn neben sich auf den Tisch und neckt: „so, Heinerle, jetzt haben wir dich in Arrest gesteckt, jetzt bleibst du mir ein Zeitlang drin.“


Die Tante Gustel schlüpft in ihr Blüschen hinein, die Amanda fängt an zu stecken, und zu probieren, und zu garnieren und Spitzen daran zu halten, immer hat es nicht so recht passen wollen, und die geduldige Tante Gustel war schon ganz abgespannt und müde und matt, bis endlich alles in Ordnung war.

 

Jetzt hat der Herr Kandidat wieder herein gedurft und hat sich überall umgeguckt, ob er denn der Fräulein Frommholz so gar nichts helfen und erleichtern könnte. Schließlich sieht er ein paar leere Flaschen stehen und bittet und bettelt, er möchte doch die wenigstens in den Keller tragen dürfen.


Die Tante Gustel gibt ihm also den Kellerschlüssel, er trägt ihr sogar ungeheißen zwei Eimer Kohlen herauf, und wie es so gegen Abend gegangen ist, da hat er sich so recht herzlich von den Damen verab-schiedet. Das Fräulein Amanda hat noch eine Weile fest darauf los gestichelt, und wie sie fertig war, gibt ihr die Tante Gustel noch extra in rosa Seidenpapier eingewickelt zehn Mark als Beitrag zur Aussteuer.

 

Am Sonntag-Morgen, wie die Tante Gustel mit ihrer Freundin in die Kirche will, sucht sie ihre goldene Uhr mit der langen Kette, und sucht und sucht in allen Ecken und Enden. „Jesses, Sannchen“, sagt sie, „ich habe doch ganz gewiss gemeint, ich hätte sie an ihr altes Plätzchen, da in der guten Stube, unter die Glasglocke bei meiner Mutter selig ihrem Myrtenkränz-lein, hingelegt, und jetzt finde ich sie nicht.

 

Wo werde ich denn die wieder hingesteckt haben. Nein, du hast gar keinen Begriff, Sannchen, was das für eine Last ist, wenn man so vergesslich wird, wie ich.“ Ja, liebe, gute, herzige Tante Gustel, da hast du Recht. Und was wirst du erst für Augen machen, und wie wirst du dich wundern über deine Vergesslichkeit, wenn du wieder hinunterkommst in deinen Keller, wo du auch für ganz gewiss meinst, du hättest zwölf Flaschen Muskateller gelagert, und es sind doch nur noch zwei.“

 

Lina Sommer