Der feine, stille Alte II
aus: Im Vorübergehn
(hochdeutsch)
In seinem kleinen Junggesellenstübchen,
viel liebe Bilder grüßen von der Wand,
sitzt er, der feine, stille, gütige Alte,
vergilbte Briefe hat er in der Hand.
In jugendlicher Hast klopft´s an der Türe,
sein Patenkind, ein lieb, hold Mägdelein,
erzählt von tiefer Liebe, treuem Werben,
und ihrer Eltern hartem, kurzem Nein.
Hilf du uns, schluchzt sie unter wehen Tränen,
steh du uns bei in unserer Herzensnot,
wir wollen nimmer voneinander lassen,
und Trennung wäre unser beider Tod.
Er küsst sie auf die reine, weiße Stirne,
in seinen Augen strahlt ein mildes Licht,
nimmt ihre schmalen Hände in die seinen,
und spricht: so rasch, lieb Kind, glaub´, stirbt sich´s nicht.
Schnell sprudelt´s von den frischen, roten Lippen:
du spottest mein, du treibst mit mir nur Scherz,
ich hätte mich an dich nicht wenden sollen,
du hattest niemand, an dem hing dein Herz.
Ein helles und doch wehmutsvolles Leuchten
huscht über das durchfurchte Angesicht:
so, meinst du, tönt es leise durch das Zimmer,
mehr spricht der gütige, feine Alte nicht.
Lina Sommer