Die kleine Liesel (Die klää' Liesel)

aus: E  klä(n) Andenke

in Mundart zu lesen

 

"Komm, Herr Jesus, sei unser Gast,

und segne, was du uns bescheret hast."

 

Die Mutter betet es – und tapfer und frisch

setzen die Kinder sich an den Tisch.

Es gibt Grießklöße und Zwetschgen, wie schmeckt es doch so gut,

wenn das Mutterchen noch für uns kochen tut.

Sie essen drauf los und sie hauen so hinein,

als könnte es ja gar nicht anders sein.

 

Auf einmal da schellt es, und die Liesel, das liebe Kind

läuft hurtig hinaus und meldet dann geschwind

und ruft so wichtig und ruft so froh:

"oh, Mutter, ich glaub´, der Herr Jesus ist da;" –

und gucke, schon führt sie so sorglich und fein,

an der Hand einen alten Wanderer herein.

Schlohweiß ist sein Haar, so müde sieht er aus,

der Hunger guckt ihm zu den Augen heraus,

gebückt der Rücken, dass Gott erbarm,

so zitterig die Hände, und so schwach und so arm.

 

"Gott grüß euch", so sagt er, will nicht von der Schwell´;

die Liesel, die führt ihn zum Mutterchen schnell

und nimmt ihm den Stock ab, und hebt den Hut,

wie tut das dem alten Mann doch so gut!

Geschwind holt sie einen Teller, einen Löffel dazu

und schöpft ihrem Gast aus, das geht wie im Nu!

Er legt ihr die Hand auf ihr lockiges Haar,

guckt ihr in die Äuglein, so sonnig, so klar,

und sagt, wie eine Träne vom Auge ihm rinnt:

"Gott segne dich vielmals, du liebliches Kind."

Noch nie hat der Liesel so gut es geschmeckt,

als wie es dem Herrn Jesus den Tisch hat gedeckt.

 

Lina Sommer

 

Originalschreibweise: