Allerseelen
aus: Ri-ra, rutsche-butsch
(hochdeutsch)
Im ersten Stock eines großen, schönen Hauses wohnte Herr Oberförster Waldeck mit seiner Gemahlin und seinem einzigen Töchterchen namens Lotte. Die gute Großmutter, die lange Jahre bei ihnen gelebt hatte, war im Frühjahr gestorben, und obgleich ihr Grab, das mit einem schönen Denkmal geziert war, vom Friedhofgärtner angepflanzt und in Ordnung gehalten wurde, ging doch die Mutter oft mit Lottchen zu Großmutters Ruheplätzchen, um ihr Sträuße von selbstgepflückten Feld- und Waldblumen zu bringen, die sie im Leben so geliebt hatte.
Heute nun, zu Allerseelen, war der Gärtner beauftragt worden, das Grab zu schmücken. Die Mutter hatte vier schöne Tannenkränze selbst gewunden und mit Immortellen besteckt, und des Nachmittags ging sie mit Lottchen und dem Dienstmädchen, welches die Kränze trug, zum Friedhof.
Ein rauher, kalter Wind fegte durch die Straßen und trieb die einzelnen welken Blätter, die noch am Boden lagen, unbarmherzig vor sich her. Die entlaubten Bäume mit ihren kahlen Ästen sahen gar so traurig aus und fröstelnd hüllte sich Lottchen in ihren warmen Kragen.
Heute machte die Mutter einen kleinen Umweg, sie ging nicht, wie sonst, direkt zu Großmutters Grab, sondern suchte auch die Ruheplätzchen ihrer Bekannten auf, um ihnen einen stillen Gruß zu bringen. Zufällig kamen sie dabei an einem kahlen Hügel vorüber, vor dem ein Mädchen und ein kleiner Junge gar traurig und verlassen standen. Sie waren so dürftig gekleidet, und froren offenbar. Die Schwester hatte ihr Brüderchen an der Hand und wischte sich mit dem Zipfel ihrer bunten Schürze die Tränen aus den Augen.
Rasch ging Frau Waldeck auf die armen Kinder zu und fragte: „Wer liegt denn hier begraben, wohl eine Schwester oder ein Bruder von euch?“ „Oder vielleicht die Großmutter?“ frug Lottchen teilnehmend.
„Nein, unsere Mutter,“ sagte das Mädchen schluchzend. „Die Mutter, – seit wann denn, armes, kleines Ding? Komm doch mal her und sieh mir in die Augen, – wie heißt du, – wie alt bist du und wo wohnt ihr denn? Musst nicht weinen, sieh, ich meine es gut mit dir,“ sagte Frau Oberförster ergriffen.
„Marie Becker heiße ich und bin acht Jahre alt, und mein Fritzel ist vier Jahre alt, und wir wohnen in der Neugasse Nr. 2, und unsere Mutter ist vor sechs Wochen gestorben!“
„Wer versorgt euch denn?“ „Unsere Großmutter, aber sie ist krank und halb blind, da kann sie nicht mitkommen. Der Vater ist in der Fabrik, aber heute Abend geht er mit uns zum Friedhof.“
Mit sehnsüchtigen Augen sah Marie nach den schönen Kränzen und Blumen. „Möchtest wohl auch einen Schmuck haben für dein Mütterlein?“ fragte Frau Oberförster, nahm dem Dienstmädchen einen Kranz ab und reichte ihn Mariechen, nebst einer Handvoll Blumen.
„O sieh doch, Fritzel, sieh, wie schön, jetzt bekommt Mutter auch Blumen,“ sagte die Schwester zum Brüderchen. „Habt ihr denn auch Lichter für heute Abend?“ erkundigte sich Lottchen. „Nein, wir haben keine.“ „Warum denn nicht, das sieht doch so hübsch aus!“ „Weil, weil – wir kein Geld haben!“
„Mama, darf ich?“ – damit zog Lottchen ihr Portemonnaie aus der Tasche, händigte Marie ihre ganze Barschaft – eine Mark – aus, und sagte, sie möge doch Lichter dafür kaufen, und sie am Abend anstecken. Die Geschwister gingen frohen Herzens nach Hause, und die Mutter und ihr Töchterlein schmückten Großmutters Grab.
Auf dem Heimweg, als Frau Waldeck Besuch machte bei einer kranken Frau, sagte das Dienstmädchen zu Lottchen: „Du wirst doch nicht glauben, dass das Kind das Geld wirklich für Lichter ausgibt! Sie wird in die erste beste Konditorei laufen und es vernaschen.“ „Nein, das tut sie nicht“, sagte Lottchen eifrig, „dazu sieht sie viel zu brav aus.“
Nach dem Abendessen ging der Herr Oberförster auch mit zu Großmütterchens Grab. Die Mutter wählte absichtlich den Weg, den sie nachmittags zurückgelegt hatten, und als sie an den kleinen Hügel kamen, da erstrahlte dieser im hellen Lichterglanz. Ein hagerer, müder Mann stand davor, hatte die Mütze in der Hand und den kleinen Fritzel auf dem Arm, der voll Verlangen die mageren Händchen nach den Lichtern ausstreckte. Daneben stand Mariechen, mit leuchtendem, zufriedenem Gesicht. Fest klammerte sich Lottchen an des Vaters Hand und wollte ungesehen vorüberschlüpfen, da kam Marie aber auch schon gelaufen, gab ihr 40 Pfennig und sagte: „Ich danke dir schön, die Lichter haben nur 60 Pfennig gekostet.“
Nun eilte auch Mariechens Vater herbei, bedankte sich herzlich und wischte sich mit seinem großen, roten Schnupftuch die Tränen ab, die ihm über die eingefallenen Wangen liefen.
Dass nun Lottchen und ihre liebe Mutter oft in der Neugasse Nr. 2 vorsprechen und dort Hilfe und Freude ins Haus bringen, brauche ich euch wohl nicht erst zu sagen, nicht wahr.
Lina Sommer