Erziehung
aus: Hausapothek (1933)
in Mundart zu lesen - Originalschreibweise siehe unten
(Dieser Text ist in pfälzer Mundart zu lesen, wenn er hochdeutsch gelesen
wird, ergibt sich an vielen Stellen ein schlechtes oder sogar falsches Deutsch)
Es war einmal ein guter Papa, der hat seine Kinder arg, arg streng gehalten, und sein ganzes Bestreben war, sie zu tüchtigen und selbst- und wunschlosen Menschen zu erziehen, während er selbst sich so allerhand Zugeständnisse gemacht hat.
So hat er unter anderem auch die Gewohnheit gehabt, zwischendurch, so gegen fünf abends, so eine kleine Mahlzeit zu halten, und sein altes Faktotum, der Mathees, hat immer für die nötige Abwechslung gesorgt. Einmal hat er ein Stück Schweizer- oder Rahmkäse – ein anderes Mal ein Schweinerippchen, manchmal auch ein Extra-Leberwürstchen geholt und auf den Tisch gestellt.
An einem schönen Tag kommt das älteste Töchterlein in das Privat-Kontor, für etwas von der Mama auszurichten, und wie es da diesen Papa so zufrieden mit Gott und der Welt und sich selbst vor einem Stück saftigen Schweizerkäse sitzen sieht, sagt es: „oh, Papa, das ist einmal ein schöner Käse, – darf ich nicht ein Stück(el)chen davon versuchen?“
„Linchen“, seufzt der Papa, und legt seine Stirne in Erzieherfalten, „wie kommst du mir denn vor. Kannst du denn gar nichts stehen sehen, – musst du von allem etwas haben wollen, – was soll aus dir werden, wenn du dir keinen Zwang antun kannst? Was meinst du, wie oft wirst du noch im Leben zugucken müssen, und wie oft wird dir etwas versagt bleiben.“
„Gucke, – ich könnte dir ja ein Stückchen von diesem Schweizerkäse geben, – warum nicht, – aber ich tue es grundsätzlich nicht. So, und jetzt gehe hinüber in die Wohnstube und hole die Anderen herüber, – den Schorschel und die Fränzel, und das Minchen und das Lottchen, dass ich es diesen auch beibringe, sich zu bescheiden.“
Das Linchen hat also ihr Brüderchen und ihre drei Schwesterchen gerufen, und dann haben sie sich alle fünf um den Tisch herum stellen müssen, wo der Papa mit großem Appetit und noch größerem Behagen seinen Schweizerkäse verzehrt hat, für dass sie sich beizeiten an das Zugucken und an das Nichts-Haben-Wollen und an das Nichts-Kriegen gewöhnen.
Lina Sommer
Originalschreibweise:
folgt