Im August 1914

aus: Hausapothek (1933)

in Mundart zu lesen - Originalschreibweise siehe unten

 

In meinem Leben gehe ich nicht mehr zu meinem Onkel Jakob und zu meiner Tante Julchen auf Besuch – und wenn ich hundert Jahre alt werden sollte. Warum, – das will ich jetzt erzählen.

 

Mein Onkel Jakob und meine Tante Julchen sind arg große Patrioten und haben drei Buben und drei Schwiegersöhne. Wie jetzt der Krieg ausgebrochen ist, habe ich gedacht, ich wollte einmal zu ihnen fahren, für den jungen Leutchen adieu zu sagen und die alten Leute zu trösten, wenn es ihnen schwer um das Herz wäre. Lieber Himmel, man weiß ja, wie es tut.

 

Wie ich also in die Nähe vom Onkel Jakob seinem Häuschen komme, da höre ich bis auf die Gasse heraus spektakeln.

 

Um mich ein bisschen bemerklich zu machen, klopfe ich mit meinem Sonnen-Parapluie an die Fensterscheiben – der Onkel Jakob spitzt heraus – und gleich darauf steht er vor mir, streckt mir seine zwei martialischen Hände entgegen – zieht mich an sein patriotisches Herz – gibt mir einen Kuss auf die Stirne, einen auf den rechten Backen, einen auf den linken Backen, und die Tante Julchen kommt hinterher gewackelt und macht es ebenso.

 

„Liebe“, sagt der Onkel Jakob, und die hellen Tränen sind ihm über seine runden, roten Backen gelaufen, „Liebe, das rechne ich dir hoch an, dass du gekommen bist. Weißt du, morgen müssen die Buben fort, – heute haben wir Abschiedskaffee.“

 

An der Tür sind mir meine drei Vettern – der Heiner, der August und der Louis – entgegen gekommen – jeder hat mir zwei Küsse appliziert und fast die Hände zu Brei zerdrückt.

 

In der Stube sind mir die drei Bäs-chen – die Gustel, die Sannchen und die Fränzel – um den Hals gefallen, dann haben mich ihre Männer begrüßt, und unter zwei Küssen von jedem ist es auch nicht abgegangen.

 

Wie wir endlich am Kaffeetisch sitzen – es war eine große Tafel, und in der Mitte ist immer abwechslungsweise ein Zwetschgenküchlein und ein Zimtküchlein gestanden, und jedes war mit zwei blau-weißen Fähnchen verziert – geht die Tür auf und fünf kleine Trabanten stolpern herein. „Sind sie nicht goldig?“ – hat der Großpapa gesagt, wie sie ihre Mäulchen gespitzt haben, für mir einen Kuss zu geben. Ich habe also jedes auf den Schoß nehmen und extra bewundern müssen, und der helle Angstschweiß ist mir ausgebrochen.

 

Wie jetzt die Kinder glücklich draußen waren – ich habe mir gerade ein Stück(el)chen Zwetschgenkuchen nach all diesem Schreck zu Gemüte führen wollen – da schellt es, und der Onkel Jakob ruft seelenvergnügt: „So ist es recht, als herein spaziert, – jetzt kommen die Schwiegereltern.“ Er hat mich dann vorgestellt und wuppdich, ehe ich mich recht verguckt habe – rechts einen Kuss – links einen Kuss – wahrhaftig sechs Mal nacheinander.

 

Zufällig habe ich dann auf die Uhr geguckt – „Jesses, Jesses, halb sechs, in einer Viertelstunde geht mein Zug.“

 

So schnell mir es mein leerer Magen erlaubt hat, bin ich in meinen Regenmantel geschlüpft, habe mein Hütchen in die Hand genommen – und – ach Gott – da sind sie alle in Reih und Glied gestanden, die drei Schwiegereltern – die drei Vettern – die drei Bäs-chen mit ihren drei Männern, der Onkel Jakob und die Tante Julchen, und jedes hat mir zwei Küsse gegeben – bloß der Onkel und die Tante nicht, die haben mir nämlich je drei gegeben.

 

Wie ich unter der Tür gestanden bin, hat der Onkel Jakob gesagt: „Liebe, ich werde dich doch nicht allein gehen lassen, das wäre noch schöner.“ Die Vettern haben auch gleich ihre Panama aufgesetzt und sind mit an den Bahnhof gelaufen. Da war wieder die nämliche Küsserei, und ganz schachmatt habe ich mich im Zug in ein Eck(el)chen gesetzt und die Augen zugemacht und Gott gedankt, dass ich meine Ruhe habe.

 

„Linchen“, ruft es da neben mir, „du wirst entschuldigen, ich habe dir ja noch keinen Gruß an deine Kinder aufgetragen – gelt, du gibst jedem einen Kuss von mir. So habe ich halt nolens volens noch einmal drei Küsse in Empfang nehmen müssen.

 

Wie mich meine Kinder daheim abgeholt haben, sind sie ganz erschrocken, wie erbärmlich ich aussehen täte. Kein Wunder, gelt, ausgerechnet 93 Küsse, und das auch noch patriotische – da gehören Nerven dazu.

 

In meinem Leben gehe ich nicht mehr zu meinem Onkel Jakob und zu meiner Tante Julchen auf Besuch – und wenn ich hundert Jahre alt werden sollte; warum, das werdet ihr jetzt schon wissen.

 

Lina Sommer

 

 

Originalschreibweise:

 

folgt