In Großmutters Stübchen
aus: Für Dich! - Reim und Prosa
(hochdeutsch)
Vier muntere Kinder, im Alter von drei bis zehn Jahren, eilten die Treppe hinauf in Großmutters Stübchen.
Guten Morgen, Oma, riefen sie wie aus einem Mund der lieben alten Frau im schneeweißen Haar zu, die mit einer kleinen Handarbeit beschäftigt am Fenster saß. Rasch legte sie alles zur Seite, begrüßte fröhlich die Trabanten, und nahm das jüngste, das ihr beide Ärmchen entgegenstreckte, auf den Schoß. Da saß es nun so geborgen und schnurrte behaglich wie ein Kätzchen.
Nun, Großmutter, wie geht es dir denn? Erzählst du uns wieder etwas? fragte der Älteste, Arme und Beine übereinander schlagend und sich im Sessel räkelnd – und: Oma, bitte erzählen, fielen die beiden Kleinen ein.
Du, sei doch nicht gleich wieder so anspruchsvoll und quäle nicht, verwies das älteste Mädchen. Vater hat es dir doch erst gestern verboten. Übrigens, Großmutter, fuhr sie fort, sage mal, wie viele Kinder hast du eigentlich?
Aber Liebes, das weißt du doch, drei Kinder habe ich, euren Vater, Tante Gertrud und Onkel Fritz. Nein, bist du aber vergesslich. Du hast doch vier Kinder: unsere Mutti, unseren Vater und Tante und Onkel. Dummes Ding, lachte der Bruder und tippte mit dem Finger an die Stirn; da müssten ja Vater und Mutter Bruder und Schwester sein – wie ich und du. Meinst du, ich würde dich heiraten? Dankeschön.
Ich wollte dich auch gar nicht, du sagst ja immer, kleine Kinder sind ein Gräuel und ich will mal allerwenigstens zwölf haben, meinte das Kind, ihr kleines Schwesterchen an sich drückend. Aber, aber, haltet doch Ruhe, rief die alte Frau dazwischen und streichelte die frischen Wangen der Enkelin, – hört zu, ich will euch etwas erzählen.
Großmutter, du bist doch ein ganz famoses Mädel, immer errätst du, was man wünscht, versicherte der Quintaner. Aber erzähle mal etwas, das wirklich wahr ist, nicht immer die alten Märchen. Gut, du sollst deinen Willen haben, sagte die alte Frau mit versonnenem Blick, es soll eine wahre Geschichte werden von einem kleinen Mädchen und einem großen Jungen.
Wie alte waren sie denn? Lass mich mal ein bisschen nachdenken, richtig, neun und fünfzehn Jahre waren sie alt. Na, das passiert, das kann schon interessant sein, meinte der Quintaner und die Großmutter begann: Es war einmal ein kleines Mädchen, das hat mit seinen Eltern in einem schönen, großen Haus gewohnt.
Sein Vater war ein Herr Doktor, und wie damals (es sind fünfundfünfzig Jahre her) ein Krieg ausgebrochen ist, da ist der Vater mitgezogen, um den kranken und verwundeten Soldaten zu helfen, und jeden Tag haben die Mutter und das kleine Mädchen ihm geschrieben und Paketchen geschickt, und fast jeden Tag kam auch ein Brief vom Vater; das Kind hat sie alle bis heute aufgehoben.
Aber einmal da ist eine ganze Woche lang keine Nachricht gekommen. Da waren sie sehr traurig und bald erhielten sie ein Telegramm, dass der Vater gestorben sei. Da ist die Mutter wie tot umgefallen. Der Herr Doktor ist gekommen und das kleine Mädchen hat nicht im Zimmer bleiben dürfen.
Da ist es in den Garten gegangen und hat bitterlich geweint. Da hat der Bub vom Haus nebenan herübergeschaut und hat gerufen: alte Heulliesel, was plärrst du denn so? Und das kleine Mädchen hat gesagt: ich plärre doch nicht, ich weine ja nur, mein Vater ist gestorben.
Eins, zwei, drei, war der Junge über die Gartenmauer herüber, hat sich zu dem Kind auf die Bank gesetzt und gesagt: du armes kleines Mädchen, was fange ich denn mit dir an? Geh, weine doch nicht so, komm mit, ich bringe dich hinüber zu meiner Mutter, die ist so fröhlich, gib mal Acht, die bringt dich wieder zum Lachen.
Und dann sind sie zusammen, Hand in Hand in das andere Haus gegangen, und die freundliche Frau hat das Kind getröstet und hat es bei sich behalten, so lange, bis seine Mutter wieder ganz gesund war. Weiter, Großmutter, weiter. Ja, seht, und dann sind die zwei Nachbarskinder gute Freunde geworden, und wie sie erwachsen waren, da ist der Junge fort auf die Universität, und das kleine Mädchen, das jetzt schon ein großes Mädchen war, ist eine Lehrerin geworden.
Und wie sie dann wieder mal in den Ferien zusammen zu Hause waren, da hat der junge Herr gefragt: du kleines Mädchen, du, willst du nicht meine liebe Frau werden, und das Fräulein hat gesagt: ja, ich habe dich ja so herzlich lieb. Großmutter, unterbrach die älteste Enkelin, wie hat denn das kleine Mädchen geheißen? Elisabeth. Oh, wie schön, gerade wie du und ich.
Und der junge Herr, hat der am Ende Friedrich geheißen, wollte der Enkel wissen, wie der Großvater und ich? Ja, ganz genau. Großmutter, Großmutter, ich glaube als, das kleine Mädchen warst du – und der Junge war der Großvater? Ja, Friedel, so ist es, und sieh, heute ist sein Geburtstag. Wenn er noch bei uns wäre, würde er siebzig Jahre alt.
Darum steht der schöne Blumenstrauß bei seinem Bild? Überhaupt, es ist in deinem Stübchen gerade, wie wenn es heute Sonntag wäre. Behutsam nahm Elisabeth ihr kleines Schwesterchen auf den Arm, blickte voll Andacht zur Großmutter und sagte leise und warm: Oma, wir wollen jetzt wieder gehen.
Servus, servus, rief Friedel, dann standen sie einen Augenblick still vor Großvaters Bild, winkten an der Türe noch mal scheu zurück, und gingen sachte, sachte die Treppe hinunter.
Lina Sommer