So Sachen
aus: Hausapothek
In Mundart zu lesen - Originalschreibweise siehe unten
(Dieser Text ist in pfälzer Mundart zu lesen, wenn er hochdeutsch gelesen
wird, ergibt sich an vielen Stellen ein schlechtes oder sogar falsches Deutsch)
Wenn ich als eine Kindergärtnerin daherkommen sehe, wie sie ihre Trabanten an einem langen Strick spazieren führt, für dass ihr keines von der kleinen Herde verloren geht, fällt mir mein Papa selig ein. Der hätte nämlich auch seine fünf Kinder am liebsten Tag und Nacht an einem Seilchen herumgeführt, und war ein Angstmeier erster Klasse.
Ist er als einmal Sonntags mit uns von Speyer auf Heidelberg gefahren, so haben wir immer im Gänsemarsch, und zwar genau dem Alter nach, vor ihm hergehen müssen, aber immer an dieser Seite, wo der Wald angepflanzt ist; nicht einmal auf den mitten Weg haben wir gedurft, geschweige denn neben hin an den Abhang.
Unsere jüngste Schwester hat er immer an der Hand geführt, und hat sich eines von uns unterstanden, einmal eine Nase lang nach rechts oder links abzuweichen, da hat er fast die Geißengichtern gekriegt, vor lauter Ängsten. Ich wundere mich heute noch, dass er überhaupt als mit uns fort ist, denn eine Pläsier war es wahrhaftig nicht für ihn.
Den ganzen Weg hat er nur zu ermahnen gehabt: „Lottchen, himmel-sapper-lott-noch-einmal, willst du jetzt gleich geradeaus gehen, dich sollen ja neun-undneunzig Kröten petzen; soll ich vielleicht mit meinen leibhaftigen Augen zusehen, wie du mir den Abhang hinunter purzelst?“ „Warte nur, Elise, willst du die Blumen stehen lassen, – herunter, sage ich dir, und auf dem Weg geblieben, sonst sollst du mich kennen lernen.“
„Schorsch, Jesses, Jesses, Jesses, was macht der Bube für Anstalten, jetzt läuft er gar einem Schmetterling nach, Linchen, gehe hin und hole mir den Schorsch, aber vorsichtig; Schorsch, jetzt kommst du mir nicht mehr von meiner Seite.“ „Frieda, du Zappel du, gucke vor dich und lasse nicht alsfort die Augen in der Luft herumspazieren, sonst ist es das letzte Mal, dass ich dich mitgenommen habe.“
So ist es als den ganzen Mittag in allen möglichen und unmöglichen Tonarten weitergegangen, und wie gesagt, ich kann heute noch nicht begreifen, was die Landpartien für unseren ängstlichen Vater für einen Reiz gehabt haben. Für die Wasserpartie ist mir das Verständnis schon näher. Mein guter Papa hat nämlich für sein Leben gerne einen guten Tropfen getrunken, und wo kriegt man diesen besser als auf einem Rheindampfer?
So ist er öfter mit uns nach Mannheim gefahren und von da aus mit dem Schiff auf Worms. Wenn wir an die Schiffbrücke gekommen sind, haben wir uns alle fünf(e) die Hände geben müssen – wie so eine lange Schlange hat es als ausgesehen – und er war sozusagen als Schwanz hinten daran gepappt, und alle Leite, die wo uns gesehen haben, haben ihre helle Pläsier gehabt und als laut hinausgelacht, wie dem Papa die Schweißtropfen von der Stirne heruntergetröpfelt sind.
Da hat das Wetter noch so schön, der Himmel noch so blau, und die Luft noch so frisch sein können, „nichts wie hinunter in die Kajüte“, war sein Losungswort; dann hat er sich so recht breit und behäbig in ein Eck gesetzt, hat sich eine Flasche Wein kommen lassen, und ich sehe noch heute sein Gesicht, wie er als mit so einer gewissen Frage und Spannung, und doch mit Andacht das erste Gläschen hat durch die Gurgel rutschen lassen.
Da war der ganze Gesichtsausdruck: „Weinchen, du bist gut, Weinchen, du gefällst mir, Weinchen, bei dir bleibe ich.“ Wir haben natürlich auch unsere Pläsier und unsere schöne Aussicht haben wollen (er hat ja seine auch gehabt), aber nicht einmal das Kajütenfensterchen haben wir zurückschieben oder aufmachen dürfen, als hinter den Scheiben sollten wir hinausgucken.
Und Wein haben wir keinen gekriegt, – jedes ein Glas Milch und dazu noch warme, dass wir uns die Mägen nicht verstauchen. Dass wir auf Abhilfe gesonnen haben, braucht man uns gewiss nicht zu verdenken. Die Elise tänzelt und schwänzelt so eine Weile vor dem Papa herum, dann sagt sie: „Papa, ich möchte einmal hinaus!“ „Warte, bis du auf Worms kommst“, sagt der Papa, und lässt sein Weinchen so in der Sonne funkeln. „Papa“, weint die Elise, „lasse mich hinaus, ich bitte dich!“
„Linchen“, sagt der Papa, „gehe du mit der Elise, aber wenn ihr euch über das Geländer legt, oder wenn ihr an die Maschine geht, dann wehe euch! Nein, Linchen, du bleibst da und gibst mir auf die Anderen acht, ich gehe mit der Elise.“ Kaum waren sie draußen, zuerst einmal natürlich einen Zug aus der Flasche, und dann die Treppe hinauf, und Augen und Mäulchen aufgesperrt, unser Bruder als Avantgarde vorne dran. „Jesses, Jesses, da kommen sie schon wieder“, pispert er, und wir, wie der Blitz die Treppe hinunter gefegt und die Nasen an die Fensterscheiben gedrückt.
„Linchen“, sagt der Papa, „gelt, der Schorsch hat nicht pariert, es war mir doch gerade, wie wenn ich ihn hätte droben stehen sehen!?“ „Papa“, sage ich, „du siehst aber auch überall Gespenster, wir sind die ganze Zeit brav beisammen gesessen, aber jetzt möchte ich auch einmal hinaus“. „Hättest du das nicht gleich vorhin sagen können, nein, was muss ich an dir alles erleben! Jetzt geht es in einem hin, also marsch, alle miteinander die Treppe hinauf, du, Elise, gehst auch wieder mit, und dass mir nachher keines mehr kommt mit Anliegen, das will ich euch geraten haben, sonst seid ihr euer Lebtage das letzte Mal in Worms gewesen!“ Auf dem Heimweg hat er dann gleich von vornherein dafür gesorgt, dass er, ungestört von der Prosa des Lebens, hinter seiner Flasche hat sitzen bleiben können.
Alle Jahre, wenn die großen Ferien angefangen haben, habe ich, als die Älteste, immer zu meinen guten Großeltern nach Edenkoben gedurft, und der Papa oder die Mama haben mich hinbegleitet und hingebracht.
So hat sich es auch wieder einmal darum gehandelt, nach Edenkoben zu fahren, und weil der Papa krank war, die Mama auch nicht disponibel, hat er sich mit blutendem Herzen entschlossen, mich alleine fahren zu lassen. Ich war selbigen Mals schon neun Jahre alt, und es lächert (reizt mich zum Lachen) mich heute noch, wenn ich an die Präliminarien (Vorverhandlungen) denke, die dieser großen Reise vorangegangen sind.
Am Abend vorher hat mich der Papa an sein Bett kommen lassen, da war der Fahrplan gelegen und die Eisenbahnkarte und zum Überfluss noch die Landkarte dazu, und ein Stück Papier und ein Bleistift. Zuerst habe ich auf der Eisenbahnkarte, dann auf der Landkarte mit dem Finger weisen müssen, wie ich fahren wollte, und weil ich die Richtung glatt gefunden habe, sind jetzt die Instruktionen an die Reihe gekommen. Drei Mal hat mir es der Papa vorgesagt und sechsmal habe ich es nachsagen müssen, schön im Takt:
„Speyer einsteigen,
Schifferstadt sitzen bleiben,
Neustadt umsteigen,
Edenkoben aussteigen“
und schließlich habe ich es noch auf ein Zettelchen schreiben müssen. „Du brauchst auch noch zu lachen“, hat der Papa gezankt, „wenn dein Vater daliegt mit geschwollenen Mandeln und kann nicht mitfahren.“ Darum habe ich noch eine Postkarte nach Diktat schreiben müssen: „Geliebte Eltern, ich bin soeben wohlbehalten in Edenkoben angekommen. Es grüßt euch eure gehorsame Tochter Lina“, und bin instruiert worden, die Karte gleich in Edenkoben, ehe ich zum Bahnhof heraus gehe, in das Postkästlein zu stecken. Wie ich am anderen Morgen zum Papa komme für ‚ade‘ zu sagen, da hat er mir noch einen Zettel in die Hand gegeben, den habe ich ihm laut vorlesen müssen:
1. Frauencoupé fahren
2. Das Billet nicht verlieren – Schusselbock!
3. Mit niemand Kommers anfangen.
4. Das Coupé-Fenster zu lassen.
5. Nicht an die Tür lehnen.
6. Überhaupt aufpassen.
Dann hat mich die Babette an die Bahn gebracht, für dass ich nicht vergesse, in Speyer einzusteigen, hat mich ins Frauencoupé zweiter Klasse gesetzt, mein Züglein ist abgedampft und die Babette wieder heimgetrosst. Ich war ganz alleine im Coupé, darum habe ich auch gleich das Fenster aufgemacht, weil mir es zu langweilig war, und wie der Schaffner ruft ‚Schifferstadt‘, da suche ich und suche ich nach meinem Zettel und kann und kann ihn nicht finden.
Es ist mir alles im Kopf herumgegangen, ach Gott, Schifferstadt, soll ich einsteigen, soll ich aussteigen, oder sitzen bleiben, ach lieber Gott, hilf mir doch, und in meiner Alteration nehme ich mein Kofferchen und nichts wie hinaus. Draußen habe ich dann meinen Ausweis gefunden, und fange an zu weinen und klage dem Schaffner meine Not. Der Unmensch hat sich halb kaputt lachen wollen und hat mich ernsthaft gefragt, ob sie mich nicht auf Speyer retour fahren sollten.
Ich habe mich natürlich gewehrt, bin in den Wartesaal, habe meine zwei Schinkenbrötchen gegessen und bin mit dem nächsten Zug weitergefahren. In Neustadt bin ich umgestiegen, habe weiß Gott den rechten Zug erwischt und wie er das erste Mal anhalten tut, springe ich heraus, stecke meine Karte ins Kästlein, und auf einmal sehe ich, dass ich noch gar nicht in Edenkoben, dass ich erst in Maikammer bin.
Was will ich machen, ich muss halt wieder warten, und bis ich schließlich in Edenkoben war, war es vier Stunden später als ich hätte ankommen sollen. Der Großpapa ist am Bahnhof gestanden und hat ausgesehen so weiß wie Käse. „Linchen, Linchen“, sagt er, „was hast du für Sachen gemacht, wo bist du herumkutschiert, drei Mal hat dein Vater schon telegrafiert, ob du ange-kommen bist; der ist in heller Verzweiflung. Ich will ihm nur gleich depeschieren, dass du jetzt da bist, sonst kommt er am Ende selbst noch.“
Ich habe nachher alles erzählen müssen, habe meine zwei Zettelchen hergezeigt, und da fängt der Großpapa an zu lachen, und da hat er sich verschluckt und hat so husten und alsfort husten müssen, dass er ganz blau im Gesicht geworden ist und vielleicht bei lebendigem Leib erstickt wäre, wenn ihm die Großmutter nicht fest auf den Buckel geklopft hätte. Um neun, wie wir gerade ins Bett gehen wollten, hält der Omnibus vor dem Haus und die Großmutter sagt: „wahrhaftig, da kommt der Jakob“, (so hat nämlich mein Vater geheißen).
Ich gehe ihm ganz betucht (niedergeschlagen) entgegen und grammle (brumme): „Papa, Papa, sei nicht böse, ich kann ja nichts dafür, ich will es nicht mehr tun“, und wie er mich gesehen hat, da ist er angegangen wie ein Lichtlein. Wie leid mir jetzt meine Schusslerei getan hat, kann ich euch gar nicht sagen, denn der Papa war eingewickelt um den Hals herum wie ein Eskimo, und die Ohren waren so voll Watte gestopft, dass sie vorne herausgeguckt hat.
Wie wir dann drinnen sitzen in der Stube, da sagt mein Großpapa: „Jakob, ich kann es dem Kind weiß Gott nicht verdenken, dass es so einen Schlamassel gehabt hat, wie kannst du aber auch so etwas machen:
Speyer einsteigen,
Schifferstadt sitzen bleiben,
Neustadt umsteigen,
Edenkoben aussteigen,
so etwas bringst nur du fertig.“
„So“, krächzt der Papa mit Ach und Krach hinter seinen geschwollenen Mandeln heraus, „du brauchst dieser Krott auch noch die Sta – Sta – Stange zu halten. Wenn sie schon mit dem Z – Ze – Zettel so Possen macht, da wäre sie vie – lleicht o – o – ohne Ze – Ze – Zettel bis auf Kon – Konstan – tino – no – no – nopel gefahren.“
Wie das Konstantinopel glücklich herausgegackst war, ist die Großmama gekommen mit einem Tässchen Lindenblütentee, und von dem Tee und von diesen Ängsten, die wo er um mich ausgestanden hat, ist dann mein Papa so schön ins Schwitzen gekommen, dass die geschwollenen Mandeln über Nacht abgeschwollen sind, und er hat getrost heimfahren können. Also ist meine Schusslerei doch für etwas gut gewesen, wer weiß, wie lange er sonst noch im Bett gelegen wäre!
Lina Sommer
Originalschreibweise:
folgt